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Leserbrief zum Artikel Ultraorthodoxe in Israel: Nur Gottes Krieger vom 06.04.2019:

Ablenkungsmanöver

Der Reisebericht Paul Huemers in die orthodoxe jüdische Welt Jerusalems wirft Fragen zu den Grundsätzen des Staates Israels auf: Religionsgemeinschaft? Volk? Beides? Nur zusammengehalten durch den Zionismus, der Ende des 19. Jahrhunderts dem jüdischen Volk den Anspruch auf einen eigenen Staat verhieß und verwirklichte, gestützt auf die religiösen Verheißungen der 3.000 Jahre alten Bibel? Und damit folgerichtig die Frage: Israel – Demokratie? Ethnokratie? Gottesstaat?
Wer in Tel Aviv den Tag am Strand verbringt oder in Westjerusalems Vergnügungsviertel um die Jehuda-Einkaufsmeile abends in Diskos und Bars unterwegs ist, hat kaum den Eindruck von einem religiös basierten Staat.
In vielen nach 1967, der widerrechtlichen Besetzung der Westbank und Ost-Jerusalems errichteten rein jüdischen Wohnvierteln ist das völlig anders. An ihrer im 19. Jahrhundert in Osteuropa kreierten Kleidung erkennbar orthodoxe Juden beherrschen hier das Bild. Teddy Kollek, seit 1963 Jerusalemer Bürgermeister und seit 1967 bis 1993 Bürgermeister der Gesamtstadt, sorgte für den Ausbau der rein jüdischen Großsiedlungen und entsprechender Infrastruktur im annektierten Ostteil der Stadt in erweiterten Grenzen, modernisierte das Jüdische Viertel, ließ das Maghreb-Viertel abreißen und errichtete dort den großen Platz vor der Klagemauer. Olmert, Bürgermeister von 1993 bis 2003, Hardliner, ehemaliger Kämpfer der berüchtigten Golani-Brigade, ermunterte verstärkt orthodoxe jüdische Gruppen, mit ihren vielen Kindern nach Jerusalem zu kommen, und sie erfüllen nun ihre Rolle, die in der offiziellem Planung angestrebte jüdische 75-Prozent-Mehrheit für die Gesamtstadt und mehr zu sichern. Das Bild der Stadt hat sich seitdem vor allem in der Altstadt und ihrem nahen Umfeld, dem sogenannten »heiligen Becken«, und in den benachbarten rein jüdischen Siedlungen im Osten der Stadt verändert. Mögen manche dieser orthodoxen Gruppen so harmlos daherkommen wie der interviewte Menahem Furgs, so gehören gleichzeitig gerade orthodoxe Gruppen wie Ateret Cohanim, Shuvat Banim, Atara Leyoshna oder Elad mit ihren Jeshuvahs und Thora-Schulen zu den aggressivsten Besatzern in der historischen Altstadt und ihrem Umfeld, die vor Zerstörung palästinensischer Wohnräume und Quartiere und der Vertreibung von ganzen Familien nicht halt machen. Deren illegales Treiben gehört zum städteplanerischen Programm dazu und wird staatlich durch Polizeischutz, Bauhilfen und eben Sicherung eines Lebens für die Religion ohne Arbeit und Armee kräftig unterstützt. In vielen Fällen machen gerade sie den Anfang für etwas, das später Politik wird: die Schaffung illegaler jüdischer Enklaven in einem zumeist armen, bedrohten, historisch gewachsenen palästinensischen Umfeld wie im Khaldiye-Viertel, im Bab-Al-Sahra-Viertel, entlang der Via Dolorosa, über den Dächern des Suk, dem Bab Al-Hadid und anderswo.
Orthodox ist also nicht gleich orthodox. Überhaupt nicht naive Kritiker des Staates Israel sind die Orthodoxen der Gruppe Neturei Karta, die schon 1938 die zionistische Idee eines jüdischen Staates ablehnte, sich 1948 gegen die Gründung aussprach – und zwar aus religiös aus der Thora belegten Gründen.
Der Streit um den Kriegsdienst scheint mir ein immer wiederkehrender und ein Ablenkungsmanöver gerade in Wahlzeiten zu sein. Israel braucht die Orthodoxen. Sie vor allem sind Garant und das sichtbare Zeichen dafür, dass Israel ein »jüdischer Staat« ist. Eine erstrebenswerte »Gemeinschaft«? Hat der Autor übersehen, dass orthodoxe Gruppen wie die, die Mea Shearim bewohnen, ihren Frauen alle Haare abrasieren, weil sie »schmutzig« sind, sie deshalb Kopftücher tragen und ihnen auch sonst keine großartige Rolle zugewiesen wird?
Die andere in Israel Identität stiftende »Gemeinschaft« dürfte ebensowenig erstrebenswert sein, ist sie doch ein Zeichen dafür, dass dieser Staat auf Gewalt aufgebaut wurde und weiter vorangetrieben wird.
Also: Demokratie nur für die säkulare jüdische Mehrheit? Ethnokratie als Konsequenz der gewollten Zerstörung der palästinensischen Minderheit? Religiöser Staat für Orthodoxe, aber ohne Staat?
Viktoria Waltz