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Leserbrief zum Artikel Proteste in Kolumbien: Panamericana blockiert vom 15.03.2019:

Brennpunkt Kolumbien

Ständig wird in den unterschiedlichsten Medien über die schwierige politische und humanitäre Lage in Venezuela berichtet, verschwiegen werden ganz gezielt weitere soziale Brennpunkte in der Region. Einer dieser Brennpunkte ist das Nachbarland von Venezuela, Kolumbien.
So befinden sich seit über einer Woche rund 12.000 Indigene in vier Departements des zentralen Südwestens Kolumbiens in einem Generalstreik und blockieren eine der wichtigsten Bundesstraßen, die Panamericana, mit Dutzenden Straßensperren. Sie fordern endlich verbindliche Zusagen über 1.000 Vereinbarungen zwischen den Indigenen und der Regierung, die seitens der Regierung ständig gebrochen werden. Mittlerweile ist es zu schwersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Streikenden und der Polizei und Armee mit Toten und Verletzten gekommen.
Solche Tatsachen wie diese oder der Generalstreik in Buenaventura, wo sogar Kinder ihr Leben lassen mussten, werden totgeschwiegen.
Die kolumbianische Vizepräsidentin Marta Lucía Ramírez beschuldigt das Nachbarland Venezuela als eine »Bedrohung für die Sicherheit Kolumbiens und die regionale Sicherheit«. Verantwortlich dafür sei eine »kriminelle Diktatur«, die das Volk unterdrückt. Im weiteren spricht sie von der »humanitären Tragödie, in der wir das venezolanische Volk leben sehen. Bei jeder Gelegenheit flüchtet die Bevölkerung, um ein Minimum an Lebensqualität außerhalb ihres Landes zu finden.«
Tatsache ist aber, laut UNHCR hat Kolumbien zum Stand Juni 2018 7,7 Millionen inländische Flüchtlinge. Mittlerweile dürfte das Land die Acht-Millionen-Grenze erreicht haben, und damit ist es das Land mit den weltweit meisten Inlandsflüchtlingen.
Was die Frage der regionalen Sicherheit betrifft frage ich, wie es möglich ist, dass Paramilitärs ganz offen und unverfroren Kopfgeld auf Indigene in Kolumbien aussetzen können? UN-Menschrechtsbeauftragte nennen die Situation in Kolumbien »dramatisch«. Die Zahl der bedrohten Menschenrechtsaktivisten und die Zahl der politischen Morde steigen in diesem Land massiv an. Die Statistik zeigt, dass Personen, die sich lokal engagieren, Opfer gezielter Morde werden. So wird geschätzt, dass allein in dieser Personengruppe etwa 335 Aktivisten seit 2016 ermordet wurden. Mit Beginn dieses Jahres wird statistisch alle 48 Stunden einer getötet. Besorgniserregend ist zudem, dass nur etwa 50 Prozent der Fälle juristisch verfolgt werden. Hauptverantwortlich dafür dürften die paramilitärischen Einheiten sein, die ja angeblich nicht existieren. Dass die Paramilitärs die Hauptverantwortlichen für die getöteten Zivilisten der letzten 60 Jahren sind, zeigt sich anhand der Zahlen des Konflikts. Sie haben fast dreimal so viele Zivilisten durch Massaker, gezielte Morde und Verschwindenlassen getötet wie die Guerillas, nämlich circa 95.000. Die Guerillas 35.000. Wieso werden diese Gruppen nicht entwaffnet? Im Gegenteil, Menschenrechtsaktivisten befürchten, dass die »Sicherheits- und Verteidigungspolitik« von Kolumbiens Präsident Iván Duque dem Paramilitarismus einen legalen Weg ebnen wird. So sollen Netzwerke von Bürgern gegründet werden, die »angesichts einer Bedrohung« in Kooperation mit den Sicherheitskräften reagieren sollen. Der Plan sei laut Duque, eine Million Menschen bis Ende des Jahres zu diesem Zweck zu gewinnen. Solche Maßnahmen hätten vergangene Regierungen bereits eingesetzt und diese endeten in der Ausbreitung paramilitärischer Strukturen. Schließlich ist es sehr verlockend die Drecksarbeit von den Paramilitärs erledigen lassen, die früher das Militär machen musste. Die regionale Sicherheit wird durch die kolumbianische Regierung bedeutend mehr gefährdet als angeblich durch das benachbarte Venezuela.
In diesem demokratischen Staat Kolumbien darf auch ein Andrés Felipe Rojas, Vorsitzender der ultrarechten Nationalistischen Partei Kolumbiens (PNC), ganz offen zum Mord an dem linken kolumbianischen Senator Gustavo Petro aufrufen.
Was den Drogenhandel betrifft, ist es sehr leicht, alle Verantwortung auf andere abzuwälzen und den Venezolanern vorzuwerfen, dass diese sie in großem Stil verbreiten. Der Kokaanbau in Kolumbien ist bis Ende 2017 auf 171.000 Hektar und die potentielle Kokainproduktion auf 1.379 Tonnen jährlich gestiegen. Tatsächlich ist die kolumbianische Regierung nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen.
Es wäre auch mal interessant zu wissen, warum sie die venezolanische Regierung als rechtswidrig einstufen. Nach meinem Wissen wurde diese 2018 ordnungsgemäß entsprechend gültigem Recht gewählt. Man kann dieser Regierung nicht anlasten, dass andere politische Gruppierungen die Wahlen boykottierten. Diese haben sich selbst in das politische Aus gedrängt und können jetzt nicht jammern, dass sie kein Mitspracherecht haben. Wie war denn das bei den Präsidentenwahlen vorigen Jahres in Kolumbien? Gab es da nicht eine politische Partei, die ihren Wahlkampf vorzeitig beenden musste, weil ihre Mitglieder massiv mit dem Leben bedroht wurden? Die Sicherheitskräfte konnten oder wollten nichts unternehmen. Soll das eine faire demokratische Wahl sein?
Gegenwärtig scheint sich der Massenmord gegenüber den Mietgliedern der ehemaligen Guerilla Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) zu wiederholen die an der Linkspartei Unión Patriótica (UP) zwischen 1984 und 2002 durchgeführt worden. Nach offiziellen Angaben spricht man von 4.153 ermordete, verschwundene oder entführte Mitglieder der UP. Darunter fallen die Präsidentschaftskandidaten Bernardo Jaramillo und Jaime Pardo Leal. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) hat einen Bericht über die Prüfungsmission der UN in Kolumbien vorgelegt. Darin wird die Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC bewertet. Die fortlaufenden Morde an Mitgliedern sozialer Bewegungen und Menschenrechtsverteidigern seien besorgniserregend, heißt es im Bericht.
Politische Gefangene aus der Guerillaorganisation Nationale Befreiungsarmee (ELN) in Kolumbien berichten von massiven Verletzungen ihrer Rechte.
Wie kommt es eigentlich, dass zum Beispiel 2018 im Departement Guajira 38 Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung gestorben sind? Wo ist hier die Verantwortung des Staates?
Ich habe an der Wahlveranstaltung des Herrn Duque 2018 in Cartagena teilgenommen. Soweit ich mich erinnern kann, versprach der jetzige Präsident den Wählern, Recht und Ordnung im Land durchzusetzen. Wann will er endlich beginnen, diese Wahlversprechen im Angriff zu nehmen? Ich meine jetzt nicht das Recht der Großgrundbesitzer und Konzerne, sich illegal Land anzueignen. Ich meine auch nicht das Recht der Paramilitärs und der Armee ungestraft Menschen ermorden zu dürfen. Auch nicht das Recht großer ausländischer Handelsketten wie Aldi, in krimineller Weise die Erzeugerpreise zu drücken. Ich spreche von dem Recht der Bauern, Fischer, Hafenarbeiter, den kleinen Straßenhändler und der jungen Mütter mit ihren Kleinkindern, die am Straßenrad Bonbons verkaufen, um zu überleben. Wann bekommen diese ihr Recht, in Frieden zu leben?
Unser Bundespräsident Herr Frank-Walter Steinmeier war vor wenigen Wochen zu Besuch bei Herrn Präsidenten Iván Duque in Kolumbien. Laut Bericht der öffentlichen Medien wurde hauptsächlich über die Situation in Venezuela gesprochen, weniger über die landeseigenen Probleme, die gelöst werden müssen. Für mich sehr verwunderlich, da Venezuela seit 1811 nicht mehr zu Kolumbien gehört.
Es ist schon interessant zu hören, dass der Bürgermeister der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta, César Rojas, den Präsidenten Iván Duque auffordert, den »Cucuteños«, die unter Armut, Arbeitslosigkeit und sozialen Problemen leiden, humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Er schlug vor, die aus den USA gelieferten, für Venezuela vorgesehen Hilfsgüter ‒ darunter Lebensmittel und Medikamente ‒ für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort zu nutzen.
Ich verkenne nicht die komplizierte Situation in Venezuela. Aber Venezuela ist in Südamerika nicht das einzige Land mit enormen Problemen. Die Leser haben das Recht, darüber unvoreingenommen informiert zu werden. Was zur Zeit leider nicht passiert.
Peter Blöth
Veröffentlicht in der jungen Welt am 22.03.2019.
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  • Das Schweigen der Falken

    Das wäre doch mal eine angebrachte Gelegenheit für all die hehren selbsternannten Hüter von Menschenrechten und Demokratie, die ja sonst so bereitwillig und vorschnell ihr interventionistisches Maul s...
    Reinhard Hopp