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Leserbrief zum Artikel Palästina: In See gestochen vom 27.07.2018:

Sprache der Unterdrücker

In der ansonsten begrüßenswert klaren Positionierung des Autors zu Gaza-Flottille gibt es Passagen etwa zu Angriffen über den angeblichen »Grenzzaun« hinweg auf israelische Siedlungen in der unmittelbaren Nähe des Gazastreifens, denen man nicht zustimmen kann. Es heißt da unter anderem zu »bewaffneten Aktionen« (!): »Mittels Drachen und Luftballons werfen Kämpfer Brandsätze über israelischem Territorium ab. Die Soldaten schießen scharf zurück.« »Zurück«! M. a. W. sie reagierten also auf wie auch immer »militärische« Angriffe? Doch nichts ist falscher als das. Die dann genannten 140 Toten (und einige tausend von Verletzten) haben damit ohnehin nichts zu tun – sie lassen sich so gar nicht erklären! Dass es nun wieder Schusswaffenverletzungen und Tote auf der israelischen Seite gibt, ist ja relativ neu. Von April bis Juni war alles gewaltfrei – doch nur von arabisch-palästinensischer Seite! »Gandhis Strategie« ging ins Leere. Die »IDF« erschießen auch Unbewaffnete, fast problemlos. Erst dann kamen die Brandballons.
Wer Originalaufnahmen von den Vorgängen bei den Demos am Stacheldrahtzaun vor Gaza gesehen hat, dem ist aber vielleicht aufgefallen, welche große Fläche auf der palästiensischen Seite der Waffenstillstandslinie von 1967 brachliegt. Keine Gärten, keine Felder – nichts! Die einfache Erklärung ist, dass seit dem israelischen Rückzug aus dem Streifen in einer »Todeszone« westlich des Stacheldrahtes Israels Armee jegliche Kultivierung, ganz zu schweigen von Feldhütten oder Gartenlauben oder gar Bauernhäusern, mit Gewalt und Brandsätzen (!) verhindert hat! »Um freies Schussfeld gegenüber Terroristen zu haben.« Und die Welt akzeptiert das! Wenn aber in umgekehrter Richtung Brandsätze per Ballon durch die Luft heransegeln und bei Sderot Felder in Brand setzen – da wo Dietmar Bartsch neulich den symbolischen »schützenden Baum« gepflanzt hat –, wird das als »militärischer Angriff« bewertet! Zweierlei Maß! Und Wurzbacher macht das im Grunde mit.
Oft ist von »Grenze«, »Grenzzaun« usw. die Rede, wo es doch eigentlich um die Einzäunung des »größten Freiluftgefängnisses der Welt« (Tony Blair) geht. (Dass es ein Gefängnis »in Aufruhr« ist, ändert daran nichts.) Die einzige international, d. h. von der UNO – übrigens gegen die Stimme Kubas und anderer lateinamerikanischer Staaten – per Resolution 181 bestätigte, aber vom Volk Palästinas, das offiziell nie gefragt wurde, abgelehnte Grenze Israels zu Arabisch-Palästina ist die von 1947! Doch danach dürfte es weder die israelische Hafenstadt Aschdod noch die israelischen Siedlungen bei Sderot geben – sie liegen auf dem damals festgelegten Territorium des arabischen Teilstaates. Die UN-Bestätigung der »grünen Linie« von 1948 bis '67 war lediglich die einer Waffenstillstandslinie! Keiner Grenze! Israel hat folglich keine Grenze gegenüber dem Palästinenserstaat, den es ja nur vorgibt, als Lösung zu akzeptieren!
Die UNO, die das Problem regeln müsste, versagt weiterhin sträflich – vor allem aufgrund der Haltung der USA – bei der friedlichen Beilegung dieses nunmehr über 70jährigen Konflikts, den sie doch selbst »auf die Gleise gesetzt« hat.
Zwei Millionen leiden in Gaza – und die Welt sieht zu. Es gibt ja in der Welt mehrere Waffenstillstandslinien – in Korea, Kaschmir, Zypern, vor Donezk und Lugansk in der Ostukraine, in Transnistrien/Pridnjestrowje, Südossetien, Abchasien, Bergkarabach/Arzach –, doch nirgends kann dabei die totale Belagerung und Isolierung des Waffenstillstandspartners bzw. Gegners soviel internationale Billigung beanspruchen wie vor Gaza. Und sie bekommt sie irgendwie – auch weil wir die Sprache der einen Seite in diesem Konfliktfall eigentlich völlig akzeptieren! Und das ist schlimm. Weil es auch Israel nicht zu einem dauerhaften Frieden verhilft. Seine Umwandlung in einen Apartheidstaat geht vor aller Augen immer weiter – und die Welt akzeptiert dabei noch seine Sprachregelungen.
Volker Wirth
Veröffentlicht in der jungen Welt am 01.08.2018.