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Leserbrief zum Artikel Migrationsabwehr: Hauptsache wegsperren vom 07.07.2018:

Die Geister, die ich rief

Kann es sein, dass die Flüchtlinge die Bevölkerung von der aktuellen Politik ablenken sollen, wo die Schere zwischen reich und arm immer weiter auseinandergeht? Was passiert in Deutschland aktuell: unsichere Arbeitsplätze, niedrige Löhne, sinkende Renten und Kürzungen bei den sozialen Leistungen. Fast jeder Vierte arbeitet im Niedriglohnsektor für weniger als zehn Euro die Stunde. Dabei ist die deutsche Wirtschaft Jahr für Jahr leistungsfähiger. Das zeigt das erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt (BIP), welches von 1991 mit 1.579,8 Milliarden Euro im Jahr 2016 auf 3.133,9 Milliarden anstieg. »Im Jahr 2015 waren die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent der Beschäftigten zum Teil deutlich niedriger als 1995. Ihr Arbeitsentgelt besitzt heute weniger Kaufkraft als vor 20 Jahren.« (Süddeutsche Zeitung, »Deutschland hat ein Lohnproblem«) Aber für die Rettung der Banken von einem Tag auf den anderen standen mehrere hundert Milliarden sofort zur Verfügung. Eine umfassende Steuerreform ist seit Jahren überfällig, um ausreichende Staatseinnahmen sicherzustellen. Sie wurde immer weiter verzögert. Und welche Vorschläge hatte dafür Herr Mike Mohring (CDU)? Er will einen härteren Kurs in der Flüchtlingspolitik fahren. Aber die soziale Frage entscheidet die nächste Wahlen und nicht der Hass gegen Flüchtlinge. Die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ist vom syrischen Bürgerkrieg ausgelöst, bis 2017 wurden mehr als dreizehn Millionen Menschen vertrieben, von denen 5,6 Millionen ins Ausland gingen. Im Libanon mit 6,007 Millionen Einwohner (2016) leben zirka 1.750.000 syrische Flüchtlinge. Und was ist los im Deutschland mit 82,67 Millionen Einwohnern (2016)? Ein Jahr vor Beginn des Krieges des Westens gegen den Terrorismus, welcher nicht zu gewinnen ist, stellten 78.564, aber 2016 schon 722.370 Flüchtlinge einen Asylantrag in Deutschland. Darüber wird nicht polemisiert, aber über die Kosten der Flüchtlinge äußern die sogenannten »besorgten Bürgern« immer lauter ihren Unmut. Da heißt es: Flüchtlinge wollen sich nicht integrieren, sie leben auf unsere Kosten! Aber am schnellsten werden die Flüchtlinge durch einen Arbeitsplatz integriert. Doch wer als Asylbewerber nach Deutschland kommt, darf erst einmal drei Monate nicht arbeiten und hat es auch danach sehr schwer, einen Job zu bekommen. Wenn die Flüchtlinge einen Job bekommen, haben sie eigenes Einkommen, Aufstiegsmöglichkeiten, intensive Sprachpraxis, Qualifizierungskurse am Abend und Anerkennung durch die Bürger, die sie dann als Beitragszahler in die Sozialsysteme und nicht als Sozialschmarotzer wahrnehmen. Wenn wir die Geister loswerden wollen, müssen wir Goethes Worte mit Leben erfüllen: »Es ist nicht genug zu wissen – man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen – man muss auch tun.«
Stanislav Sedlacik
Veröffentlicht in der jungen Welt am 12.07.2018.