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Leserbrief zum Artikel 68er-Bewegung: Der 9. November und die APO vom 04.11.2017:

Nazimitläufertum

Tolerieren von Nazimitläufertum und Schutz der NS-Täter vor Auslieferung kennzeichnen die Geschichte des Adenauer-Staates. Die Aufarbeitung der europaweiten Verbrechen des Hitlerfaschismus wurde bis in die 70er Jahre systematisch verschleppt und hintertrieben. Eine umfassende Betrachtung der Hitlerdiktatur wurde erst in den 90er Jahren vorgenommen. Zu den Resultaten zählten der Entschädigungsfonds für frühere Zwangsarbeiter und das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas.
Dass bis heute kein wirkliches Umdenken, keine klare Distanzierung von den Oberländers, Globkes, Lübkes, Kiesingers, Carstens, Schleyers, Filbingers oder Waldheims erfolgt ist, zeigt u. a. der tägliche Gebrauch der sprachlichen Symbole des Hitlerfaschismus in Deutschland, wie »Nationalsozialismus« und »nationalsozialistisch«. Jeder, der Faschismus als globales gesellschaftliches Phänomen erkannt und exakt politisch-ökonomisch analysiert hat, wird diese Rattenfängersymbolik strikt von sich weisen und die Begriffswelt von Julius Fucik oder Wilhelm Pieck verwenden.
Zu den Eigenheiten im Staat der Nazimitläufer zählt das einseitige Feindbild der Marxschen »Diktatur des Proletariats«. Darauf werden bis heute beliebig Hass, Missachtung und pure Häme ausgeschüttet, um in der breiten Masse Furcht und Abneigung zu erzeugen. Insbesondere immer dann, wenn – genährt durch permanente Krisen und Skandale – das Ansehen des überlebten Kapitalismus wieder einmal gegen null geht.
Diese ideologisch-propagandistische Ausrichtung beinhaltet das systematische Ausblenden und Vergessenmachen der Dimensionen faschistischer Verbrechen. Denn Realismus an dieser Stelle würde jede Gleichmacherei zwischen Sozialismus in der DDR und Hitler-Faschismus in Deutschland schnell zum Kippen bringen. Das Grauen an der Rampe von Auschwitz-Birkenau, der damit verbundene industrielle Tod »made in Germany« stellen nun einmal das unerreichbare, unfassbare Menetekel des 20. Jahrhunderts dar. Untrennbar verbunden mit den Namen deutscher Großunternehmen wie Degussa, IG Farben, Siemens und Deutsche Bank. In die Nähe der Ausmaße dieses Grauens kommt nur noch der vom kaiserlichen Deutschland initiierte Gaskrieg in Flandern 1915–17, militärtechnisch konzipiert von den deutschen Chemie-Nobelpreisträgern Fritz Haber und Walter Nernst.
Beim deutschen Normalverbraucher sollen diese eigenen Makel nach Möglichkeit in Vergessenheit geraten. Schließlich sieht man sich personell und weltanschaulich in einer Kontinuitätslinie zurück bis zum Kaiserreich. Das entspricht der Faktenlage.
Folglich wird bis heute wirklich jede Gelegenheit genutzt, die DDR und ihre Geschichte zu diskreditieren und zu attackieren. Wer jedoch die grauenhaften Leichenberge von Bergen-Belsen, Mauthausen oder Treblinka de facto auf dem eigenen Konto hat und immer wieder versucht, durch simple Gleichmacherei ideologische Erfolge zu erzielen, macht sich hochgradig unglaubwürdig. So wirken die immer wiederkehrenden Versuche mehr als makaber, der Berliner Mauer doch noch ein paar Tote mehr zuzuordnen. Im Kontext mit den grauenvollen Bilanzen der deutschen Todeslager wurde eher das Gegenteil versucht.
Immer, wenn aus dieser Ecke rhetorisch vollmundig mit »Todesstreifen« und »Stacheldraht« angesetzt wird, denke ich nicht an die Berliner Mauer, sondern an deutsche Konzentrationslager. Die Todesstreifen wurden von der SS bewacht. Der Stacheldraht wurde in der Regel von der Fa. Siemens unter Hochspannung gesetzt. Daran starben Hunderte verzweifelte Naziopfer. An dieser Stelle scheue ich mich, einen Vergleich mit der Berliner Mauer auch nur zu erwägen.
Müssen die westlichen Propagandisten des Kalten Krieges erst alle aussterben, damit diese Ignoranz aus der Ecke des Nazimitläufertums, dieses Ausblenden an der falschen Stelle, endlich der Vergangenheit angehören?
Bernd-R. Paulke
Veröffentlicht in der jungen Welt am 09.11.2017.