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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel SPD-Vorstand nominiert Martin Schulz vom 30.01.2017:

Faustdicke Lüge

Sehr geehrter Herr Schulz, Ihren Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit wird jeder Linke gern zustimmen, insofern kann sich die SPD zu diesem »Neuanfang« gratulieren – doch wieso beginnen Sie Ihre Karriere mit einer solch faustdicken Lüge über das Minsker Abkommen? Um die Fortführung der Sanktionen gegen die Interessen eines großen Teils der deutschen Wirtschaft zu begründen,oder um den US-Amerikanern, Briten usw. zu gefallen? Die sind nun nicht mehr Ihre Gesprächspartner! Sie wissen besser als ich, dass »das sogenannte Minsker Abkommen«, um Sie bei Anne Will zu zitieren – wie jedes Abkommen – zwei Seiten hat, wobei nicht nur Russland zu »liefern hat«, sondern auch die Kiewer Regierung. Als in der Hauptstadt der Ukraine nach einer bewaffneten Rebellion »gegen die Russenregierung« die wildesten Russenfresser triumphierten, bei einem Einsatz von angeblich nur (so Mrs. Nuland) fünf Milliarden USD durch die USA gar kein schlechtes Ergebnis, da verhielt sich Putin sehr maßvoll: Obwohl die Absetzung des gewählten Präsidenten rechtswidrig war – er war bei weitem demokratischer gewählt worden als der jemenitische Präsident Saleh, und für die Absetzung von Janukowitsch fehlte eine Stimme –, marschierte er nicht – wie Saudi-Arabien im Jemen – im Nachbarland ein, stützte dort nicht eine Gegenregierung (z. B. in Charkow), bombardierte dort nicht von den Aufständischen gehaltene Städte und Küstenanlagen, wie Riad und Washington es im Jemen tun – nein, er trug maßgeblich zum Abschluss der beiden Minsker Abkommen bei. Und »Minsk 2« enthält exakte Festlegungen nicht nur über Waffenstillstand und Entflechtung bzw. Rückzug der schweren Waffen, sondern auch über konstitutionelle Reformen in der Ukraine hin zu einem Bundesstaat. Der deutsche Außenminister (jetzt also Ihr Freund Gabriel) und der französische Außenminister (M. Ayrault) haben in diesem Abkommen ebenso auf die ukrainische Seite einzuwirken und in einem Zug-um-Zug-Verfahren zum Erfolg des Abkommens beizutragen, wie das Russland bei den – nur formal nicht beteiligten – beiden Volksrepubliken des Donbass, Donezk und Lugansk (nicht Luhansk, denn dort wird russisch gesprochen), tun muss. Ihre einseitige Schuldzuweisung an Russland für das Weitergelten der Sanktionen ist daher eine faustdicke Lüge! Für die Sie sich auch bei Ihren Genossen Woidke und Platzeck entschuldigen müssen, die gerade ostdeutsche Unternehmer trösten müssen, deren Russland-Geschäft im Eimer ist! Denn wenn sich Kiew verweigert, den unterschriebenen Weg wirklich zu gehen, müssten die Sanktionen doch wohl das prowestliche Poroschenko-Regime, die Regierung der Oligarchen mit den russophoben Parteien – Swoboda (Freiheit) und der Jazenjuk-Partei sowie zeitweise der Partei Batkywschtschyna (Vaterland auf ukrainisch – auf russisch wäre das Otjetschestwo) treffen, nicht Russland! Genau das verschweigen Sie und Ihre »West-SPDler«!
Das alles wissen Sie genau, aber Sie erzählen Frau Will – ohne deren Widerspruch – die Lüge von der Schuld Russlands am Fortbestehen der Sanktionen! Finden Sie sich damit ab, Herr Schulz, dass rund die Hälfte der Bevölkerung der Ukraine russisch denkt und spricht, dass es in diesem Sinne »unsere Ukraine« nicht geben wird und dass die Russen nicht alle (nach dem humanen Spruch: »Tschemodan – woksal – Rossija«, also »Pack den Koffer – geh zum Bahnhof – fahr nach Russland«) das Land verlassen werden. Doch ihr Kampf um eigene Rechte in ihrer Heimat ist in Slawjansk, Odessa und Mariupol blutig beantwortet worden – woraus sich dann ein regelrechter Bürgerkrieg entwickelte. Nicht durch die Schuld Russlands! Dass dieses danach eine Seite im Konflikt unterstützte, ist geopolitisch völlig verständlich – aber das ergab sich auch aus der unglaublichen Verweigerung bürgerlicher Rechte – vorher schon und seit rund 25 Jahren – in den baltischen Staaten für die dort zum Teil kompakt lebenden russischen nationalen Minderheiten; Putin hat quasi versprochen, dass sich das nicht wiederholt, und wird durch russische Nationalisten (Schirinowski usw.) auch dazu gezwungen sein, Wort zu halten – mehr noch: 80 Prozent aller Russen billigen seinen Kurs! Auch wenn das Entbehrungen bringt! (…) Herr Schulz, Sie sollten Ihre neue Karriere nicht mit so einer faustdicken Lüge beginnen – die Russen in den Volksrepubliken werden nicht aufgeben, Putin wird nicht vor Berlin und Paris kapitulieren, indem er sie komplett verrät. Die Sanktionen sind also, wenn sich Kiew weiter föderalen Lösungen nach belgischem, schweizerischem oder auch zumindest deutschem Vorbild verweigert, ein völliger Anachronismus, der zudem deutsche Arbeitsplätze kostet, und ich denke, damit Ihrer Partei auch Wählerstimmen! Kehren Sie also bitte zur Wahrheit zurück! Tragen Sie zur Abschaffung der Sanktionen bei! Revidieren Sie Ihre einseitige Stellungnahme (…)!
Dr. Volker Wirth
Veröffentlicht in der jungen Welt am 07.02.2017.
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