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24.03.2024, 11:58:49 / Ausland
Terror in Moskau

Russland verdächtigt nach Anschlag Ukraine

Zahl der Opfer auf 154 gestiegen. USA schließen ukrainische Beteiligung aus, Kiew spricht von False-flag-Operation des russischen Geheimdienstes
Von Reinhard Lauterbach
Tage der Trauer: Tausende gedachten am Wochenende der Opfer des
Tage der Trauer: Tausende gedachten am Wochenende der Opfer des Terroranschlags bei Moskau (24.3.2024)

Am zweiten Tag nach dem Anschlag auf die Konzerthalle »Crocus City Hall« in der Moskauer Vorstadt Krasnogorsk ist die Zahl der Todesopfer auf 154 gestiegen. Das teilte am Sonntag vormittag die örtlich zuständige Verwaltung des Moskauer Umlands mit. 107 Personen seien noch in stationärer Behandlung, 44 in ambulanter.

Weniger gewiss ist, wer letztlich für den Überfall veranwortlich ist. Eine Selbstbezichtigung des »Islamischen Staates« direkt nach der Tat wurde im Westen im allgemeinen als glaubwürdig eingeschätzt, in Russland dagegen zumindest angezweifelt. Auffällig war, dass das US-Außenministerium schon am Sonnabend eine Erklärung des Inhalts veröffentlichte, man sehe keine Anhaltspunkte für eine Beteiligung Kiews. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij griff am Sonnabend zum rhetorischen Element der Retourkutsche. Wladimir Putin »und seine Bastarde« schickten »Hunderttausende Terroristen in die Ukraine«, um dort »zu morden und zu vergewaltigen«, und gleichzeitig sei die russische Staatsmacht nicht in der Lage, die eigene Bevölkerung vor Terroristen zu schützen. Zuvor hatten ukrainische Politiker behauptet, der ganze Anschlag sei sowieso eine False-flag-Operation des russischen Geheimdienstes FSB mit dem Ziel gewesen, eine noch weitere Eskalation des Krieges gegen die Ukraine zu rechtfertigen.

Die russische Seite hatte zunächst schon kurz nach der Festnahme von vier der fünf mutmaßlichen Attentäter einen Auszug aus der Vernehmung eines der Männer veröffentlicht. Darin hatte dieser eingeräumt, von einem islamischen Prediger, dessen Auftritte er im Internet verfolgt habe, angesprochen worden zu sein. Dieser habe ihm eine Million Rubel (etwa 10.000 Euro) versprochen, wenn er »möglichst viele Christen töte«. Die Hälfte des Geldes habe er vorab erhalten; die Zahlungskarte, auf die ihm das Honorar überwiesen worden sei, habe er jedoch bei der Flucht vor der Polizei vor seiner Verhaftung im Wald verloren. Das bedeutet, dass außer dem Geständnis des Verdächtigen keine weiteren Hinweise seine Darstellung unterstützen.

Später verschob sich dann der Akzent der russischen Darstellung in Richtung auf Vorwürfe gegen die Ukraine. Präsident Wladimir Putin, der zunächst geschwiegen hatte, sagte am Samstag nachmittag, für die flüchtigen Täter sei »eine Gelegenheit zum Grenzübertritt in die Ukraine« vorbereitet gewesen. Belege für diese Aussage legte er nicht vor. Später am Sonnabend zitierte die Seite der Zeitung Iswestija Informanten aus den Ermittlungsbehörden mit der Aussage, »jeder ernsthafte Geheimdienst« habe Zugriff auf Leute wie die späteren Attentäter, die an die Ukraine hätten »ausgeliehen« werden können. Zuvor hatte dieselbe Seite einen anderen Ermittler mit der Aussage zitiert, die Festgenommenen seien »kleine Fische von unterdurchschnittlicher Intelligenz«. Auf der anderen Seite wurde behauptet, die Attentäter hätten im Rahmen eines arbeitsteiligen logistischen Umfelds gearbeitet.

Unabhängig davon deuten Schilderungen von Augenzeugen auf Mängel bei den Sicherheitsvorkehrungen rund um das Konzert hin. Aus ihren Aussagen geht hervor, dass an dem Anschlag fünf und nicht vier Täter direkt beteiligt gewesen sein müssen. Sie seien mit einem weißen Renault, der später auch als Fluchtfahrzeug diente, vorgefahren und hätten noch in der Eingangshalle, vor den Metalldetektoren, angefangen, um sich zu schießen. Anschließend hätten sie das Gelände offenbar unbehelligt verlassen. Einer der Schützen wurde offenbar im Innern des Konzertsaales von Zuschauern überwältigt und soll in dem anschließenden Brand umgekommen sein. Der entscheidende Hinweis kam demnach von einem Mann, der die fünf Männer im Kampfanzug zunächst für Strikeball-Spieler gehalten hatte und erst in dem Moment, als er die Schüsse hörte, die Behörden alarmierte und ein in der Kamera seines Autos aufgezeichnetes Video des zur Anfahrt und zur Flucht verwendeten Fahrzeuges an die Ermittler weitergab.

In ganz Russland herrscht am Sonntag Staatstrauer. Viele Menschen brachten Blumen und Kerzen zum Ort des Überfalls, Tausende spendeten Blut für die Verletzten. Die Moskauer Botschaften auch der wichtigsten NATO-Staaten hissten ihre Fahnen auf Halbmast. Die US-Regierung behauptete, sie sei in dieser schweren Stunde »solidarisch mit dem russischen Volk«. Das Geschehen zeige, dass der Terrorismus eine gemeinsame Bedrohung sei, die auch nur gemeinsam bekämpft werden könne.

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