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Leserbrief zum Artikel Kritik der politischen Ökonomie: Die Tücken der Schwarmintelligenz vom 17.11.2020:

Kein Stein der Weisen

1986 hat der Computerexperte Craig Reynolds eine Simulation zum Schwarmverhalten von Vögeln veröffentlicht, wonach deren sogenannte Schwarmintelligenz auf lediglich drei Verhaltensregeln beruht. Diese lauten erstens: Als Schwarmmitglied bewege dich stets in Richtung des Mittelpunktes vom Schwarm. Zweitens: Vermeide Zusammenstöße mit deinen Nachbarn.
Drittens: Bewege dich in dieselbe Richtung wie sie. Das Resultat ist eine für alle Schwarmmitglieder dynamisch, d. h. energetisch günstige Bewegung. Was der Schwarm so hinbekommt, sieht ohne Zweifel »intelligent« aus. Und es ist offenkundig kein Produkt einer gemeinsamen Planung oder eines einsamen Befehls. Klaus Müller ist von dieser Erkenntnis offenbar so ergriffen, dass er sie auf weitere Felder ausweitet. Angefangen bei seinen Erfahrungen als kleiner Junge im Fußballstadion bis hin zu denen als reifer Mann über die ökonomischen Betriebsweisen des Kapitalismus. Alles nur »Emergenz« mit »Tücken«. Nun ja, der Stein der Weisen wird immer wieder mal gefunden. Für die mechanischen Deterministen des 17. und 18. Jahrhunderts z. B. schien auch alles klar. Jeder Prozess sollte auf mechanische Gesetze zurückführbar sein. Für jeden physikalischen Vorgang bräuchte man nur die dazugehörige Differentialgleichung mit wenigen Bewegungsgrößen definieren, und alles wäre beschreibbar, erkennbar, vorhersagbar. Man nannte diese wissenschaftliche Überheblichkeit später nach einem seiner Hauptvertreter den »Laplaceschen Dämon«. Nun als der »Klaus-Müller-Dämon« der »Emergenz«?
Aber Schwärme verändern auch ihre Richtung. Und sie haben einen Anfang. Mit den drei Regeln von Craig Reynolds ist beides nicht erklärbar. Um die Erweiterung des Erklärungsmodells für »Schwarmintelligenz« wird man also nicht herumkommen. Die kritische, d. h. qualifizierte Minderheit, die der ihr folgenden Masse den entscheidenden Impuls gibt, sollte nicht vergessen werden. Zum Gelingen einer Interaktion mit dem Resultat »Schwarmintelligenz« muss diese Minderheit eine in der ihr folgenden Masse vorhandene Potenz korrespondieren beinhalten. Das Wesen dieser Potenz aber ist allein mit seiner Erscheinung bzw. der Phänomenologie seiner Betrachtung nicht erfassbar. Warum die Masse folgt, kann mit Schwarmintelligenz nicht erklärt werden. Und wenn das mit »Tücken« erfolgt, ist die Emergenz kein dafür hinreichendes Kriterium der Kritik.
Man sieht: Es ist doch etwas komplexer, als es die oberflächliche Betrachtung einer Emergenz nahelegt. Diese läuft am Ende auf die nichts erklärende Binsenweisheit hinaus, dass eine Gruppe aus egal welchen Elementen nie allein nur die Summe dieser Elemente ist.
Das wird besonders deutlich in einem anderen Beispiel. Das erste Grundproblem der politischen Ökonomie des entwickelten Kapitalismus war die Frage nach einer ganz besonderen Emergenz: Wie ist gesellschaftliche Produktion privater Produzenten überhaupt möglich? Wie können ohne Plan die unabhängig voneinander agierenden Produzenten die gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigen? Wie also ist, im Sinne von Klaus Müller formuliert, die Formation eines kapitalistischen Gesellschaftsschwarms erklärbar? Antwort: Es ist das Wertgesetz. Natürlich hatte sich Karl Marx bei der Beantwortung dieser Frage nicht mit den oberflächlichen Phänomenen einer Schwarmintelligenz aufgehalten.
Dr. Enrico Mönke, Berlin
Veröffentlicht in der jungen Welt am 23.11.2020.