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Leserbrief zum Artikel Soziale Ungerechtigkeit: Wo die Ärmsten sterben vom 09.04.2020:

Auf der Flucht vor der Großen Pest

Der heutige Beitrag in der jungen Welt »Wo die Ärmsten sterben« mit der Unterzeile »Coronavirus wütet im Pariser Norden. Reiche aufs Land entflohen« hat mich beflügelt eines der unvergänglichen Meisterwerke der Weltliteratur aus meinem Bücherschrank zu holen. Giovanni Boccaccio: Das Dekamerone. Dies ist eine Sammlung von wunderbaren, auch sehr erotischen Novellen, die von einer Rahmenhandlung zu einer Einheit geformt wurden. Zehn Adlige aus Florenz entfliehen der Pest und lassen es sich auf dem entfernt gelegenen Land gutgehen. Boccaccio schreibt gleich zu Beginn, dass offenbar »zur Heilung dieses Übels kein ärztlicher Rat und die Kraft keiner Arznei wirksam oder förderlich wäre. Sei es, dass die Art dieser Seuche es nicht zuließ oder dass die Unwissenheit der Ärzte (deren Zahl in dieser Zeit, außer den wissenschaftlich gebildeten, an Männern und Frauen, die nie die geringste ärztliche Unterweisung genossen hatten, übermäßig groß geworden war) den rechten Grund der Krankheit nicht zu erkennen und daher ihr auch kein wirksames Heilmittel entgegenzusetzen vermochte, genug, die wenigsten genasen, und fast alle starben innerhalb dreier Tage nach dem Erscheinen der beschriebenen Zeichen; der eine ein wenig früher, der andere etwas später, die meisten aber ohne alles Fieber oder sonstige Zufälle.«
Auf den folgenden Seiten beschreibt Boccaccio sehr anschaulich das Wüten der totbringenden Krankheit und auch die hilflosen Versuche der Menschen, ihr Stand zu halten. Und dann schreibt er: »Andere aber waren grausameren Sinnes – obgleich sie vermutlich sicherer gingen – und erklärten, kein Mittel gegen die Seuche sei so wirksam und zuverlässig wie die Flucht. In dieser Überzeugung verließen viele, Männer wie Frauen, ohne sich durch irgendeine Rücksicht halten zu lassen, allein auf die eigene Rettung bedacht, ihre Vaterstadt, ihre Wohnungen, ihre Verwandten und flüchteten auf ihren eigenen Landsitz; als ob der Zorn Gottes, der durch diese Seuche die Ruchlosigkeit der Menschen bestrafen wollte, sie nicht überallgleichermaßen erreichte, sondern nur diejenigen vernichtete, die sich innerhalb der Stadtmauern antreffen ließen …« Zu diesen »Geflüchteten« gehörten auch die zehn Florentiner, denen Boccaccio ein literarisches Denkmal von Weltruhm geschaffen hat.
Ob die Reichen, die aus den feinen Wohnvierteln der französischen Hauptstadt schon vor Wochen zu ihrem Zweitwohnsitz auf dem Land geflohen sind, auch so einen genialen Chronisten ihres Lebens finden werden, ist ausgeschlossen. Das »Dekamerone« ist einmalig. Aber ganz davon abgesehen, die Klasse der lohnabhängig Beschäftigten hätte wenig Sympathie und Empathie für ein exklusives Leben außerhalb ihrer eigenen Reichweite.
Hans Schoenefeldt
Veröffentlicht in der jungen Welt am 15.04.2020.