Leserbrief zum Artikel Evangelische Kirche in Sachsen: Rechter Bischof geht
vom 16.10.2019:
Geschichtsvergessenheit
Protestantische Theologie fußt auf der Bibel. Die Bibel ist eine Büchersammlung, die viele teils sehr unterschiedliche und widersprüchliche Traditionen, Ansichten und Aussagen vereint, die offen für vielfältige Interpretationen sind. Was aus ihr herausgelesen wird und was dabei als wichtig erachtet wird, sagt manchmal mehr über den Ausleger aus als über das Ausgelegte. Falls in ihr Offenbarungswissen enthalten sein sollte, ist es durch die völlig menschliche Darstellungsform als solches nicht mehr eindeutig erkennbar. Und etwas Zweideutiges kann bestenfalls konsultarischen, nie aber normativen Wert haben. Theologie »nach Auschwitz« (Hans Jonas) sieht den Gottesgedanken in Frage gestellt. Sie muss aber auch sich selbst in Frage gestellt sehen. Die Auslegungs- und Theologiegeschichte resultierte nicht selten in einer finsteren Wirkungsgeschichte (Antijudaismus; völkisches Denken bei den »Deutschen Christen«; vgl. »Die Kriminalgeschichte des Christentums« von Karlheinz Deschner). Heute geschichtsvergessen die unter größten Mühen und Opfern erkämpften zivilisatorischen Errungenschaften wie Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechte als »unprotestantisch« abzuweisen, das bereitet der nächsten Barbarei den Weg.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.10.2019.