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Leserbrief zum Artikel Geschichte Ungarns: Weißer Terror, rote Ohnmacht vom 27.07.2019:

Schwere Bürden

Historische Umbrüche oder neue machtpolitische Konstellationen werden wie derzeit auch in Ungarn durch die Umbenennung von Straßen und durch Denkmalstürze besonders augenfällig. Damnatio memoriae, hieß es bereits in der Antike. Was soll vergessen gemacht und woran zur eigenen Legitimation erinnert werden?
Die Auseinandersetzung um die ungarische Räterepublik des Bela Kun und die Ursachen ihres Endes sind in der Öffentlichkeit kaum intensiv diskutiert worden. Es fehlt unter anderem an gesicherten bzw. an wirklich bekannten Fakten. Angesichts dessen thematisiert der kenntnisreiche Christian Stappenbeck das für ihn nicht ganz neue Räte-Phänomen. In an- und aufregender Weise trifft er die sicherlich optisch zutreffende Behauptung, der politisch bestimmende Revolutionäre Regierungsrat der Diktatur unter Kun sei im August 1919 freiwillig zurückgetreten, habe die Geschäfte einer sozialdemokratischen Gewerkschaftsregierung übergeben und damit einen Bürgerkrieg verhindert. Diese Darstellung eines im wesentlichen friedlichen Verzichtsaktes ist meines Erachtens zu glatt. Sie wirft nicht die Frage auf, ob für Kun oder andere seiner Genossen, auch wenn er sie gewollt hätte, eine Alternative Bürgerkrieg überhaupt möglich und vielleicht ansatzweise erfolgversprechend gewesen wäre. Kun, so sehr er auch Weltrevolutionär, Anhänger Lenins und der Sowjetmacht blieb, konnte 1919 auf deren militärische, finanzielle und politische Unterstützung nicht hoffen, rumänische und andere Interventionstruppen, faktisch unterstützt von Frankreich und England, die in keiner Weise einen »Bolschewismus« im besiegten Ungarn dulden wollten, standen im Land, dessen sich auflösende Rote Garden und andere bewaffnete Formationen zu größeren Kampfhandlungen nicht in der Lage waren. Im Innern Räteungarns und auch von außen her formierte sich die »weiße« Konterrevolution aus den alten politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Eliten und aus den in der Habsburger Tradition stehenden Militärs. »Weißer Terror, rote Ohnmacht« titelt Stappenbeck. Abgesehen davon, dass beide Seiten – offenbar bald stärker die »weiße« – Terror anwendeten, wurden die Träger der Rätemacht einerseits durch eigene unrealistische soziale und politische Maßnahmen zunehmend handlungsunfähig, die große Bevölkerungsteile enttäuschten und verärgerten, sie ins Lager der Konterrevolution trieben. Bürger und Bauern wollten sich von den für sie größtenteils nachteiligen administrativen und wirtschaftlichen Auflagen der »Roten« und ihrem politisch-ideologischen Druck befreien. Andererseits zerfielen in diesem Prozess politische Koalitionen und Zweckbündnisse, die prinzipiell nicht gefestigt waren, unter dem Eindruck täglich neuer Schwierigkeiten, sich verschärfender Widersprüche und offener Dissonanzen. Abgesehen von der sicherlich auch für Stappenbeck interessanten Frage, inwiefern die Räteherrschaft 1919 in Ungarn zur Lösung besonderer gesellschaftlicher Probleme und zu einer kurz- bis mittelfristigen Perspektive hätte beitragen können, sollte die historische Analyse auch im Zeitungsformat herausstellen, dass die Räterepublik durch das Zusammenwirken von inneren und äußeren Faktoren nur kurzlebig sein konnte. Das Land war verelendet, es hungerte. Daran hing zeitweilig beinahe alles. Zudem zwang der Versailler Vertrag (Trianon) Ungarn zur Abtretung des größten Teils seines alten Staatsterritoriums. Das führte mit zu einer Eskalation des an sich schon starken ungarischen Nationalismus, dessen sich auch die Räteherrschaft bediente. Feindbilder und eine weitverbreitete Überheblichkeit gerade bei der religiös-konservativen Landbevölkerung verstärkten sich wie auch die Suche nach Verbündeten im Ausland zur Wiederherstellung einstiger Größe. Mentalität und Interessen der sich als stolze Magyaren Fühlenden ließ sich schwerlich mit einer kommunistischen Räteherrschaft verbinden.
Dr. Michael Lemke, Berlin
Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.08.2019.