Leserbrief zum Artikel Paris: Regierungsgebäude gestürmt
vom 07.01.2019:
Bei Wind und Wetter
Wie in den meisten Medien werden in obigem Artikel fast nur die Ausschreitungen im Zusammenhang mit den Manifestationen der »Gilets jaunes« erwähnt. Es gibt in der Tat eine radikale Richtung innerhalb der Protestbewegung, aber die überwiegende Mehrheit demonstriert landesweit friedlich und distanziert sich von den Ausschreitungen. Forderungen und Struktur der Bewegung kommen im vorliegenden Artikel kaum zur Sprache. Es geht immer noch um die Erhöhung der niedrigeren Löhne und Renten, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und jetzt auch um die Einführung eines RIC, Référendum d’initiative citoyenne, das sind Volksbegehren zu politischen Fragen. Eine feste Organisation haben die Gilets jaunes nicht, es gibt einzelne Wortführer, aber bis jetzt lehnen sie feste Strukturen ab. Sie verstehen sich als »apolitisch«, d. h. sie grenzen sich von etablierten Parteien und Gewerkschaften ab, einschließlich kommunistischer Organisationen, und wollen von ihnen auch nicht vereinnahmt werden. Die CGT hat jetzt erneut vorgeschlagen, Allianzen einzugehen, damit die Proteste auch in die Betriebe getragen werden. Die Antwort der Gilets jaunes steht noch aus. Die Regierung ihrerseits bietet einen landesweiten nationalen Dialog an, dazu laufen inzwischen auf verschiedenen Ebenen die Vorbereitungen. (Stuttgart 21 lässt grüßen!) Wie die Gilets jaunes darauf reagieren werden, ist fraglich. Die CGT lehnte die Teilnahme bereits ab. Die Forderungen nach einem Rücktritt Macrons sind leiser geworden, es gibt auch keine konkreten Vorschläge, wer oder was nach Macron kommen soll. Die gesamte Bewegung befindet sich in der Entwicklung, und dabei wollen sie sich von außen nicht hineinreden lassen. Vieles von dem, was ich hier schreibe, habe ich durch Gespräche mit Gilets jaunes erfahren. Auch im südfranzösischen Hinterland findet man sie täglich an wichtigen Kreuzungen, bei Wind und Wetter.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 08.01.2019.