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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Nationalismus: Chaos zur Feier des Tages vom 10.11.2018:

Historischer Irrtum

Die Aussage, »die UdSSR und Polen teilten sich die Ukraine und Belorussland«, ist doppelt falsch. 1. Die UdSSR wurde 1922 gegründet – zwei Jahre vor dem Friedensschluss in Riga. 2. Es fand keine Teilung statt (was fatal an die drei Teilungen Polens erinnern würde), sondern Polen annektierte die Westukraine und den Westteil von Belarus. Diese Annektion konnte erst 1939 wieder rückgängig gemacht werden, was reaktionäre Historiker wiederum der UdSSR als Annektion vorwerfen, da sie die polnische Okkupation von 1920 ignorieren.
Bernd Kelly

Kommentar jW:

Auf den Brief antwortete Reinhard Lauterbach:

Vielen Dank für Ihren Leserbrief. Sie haben recht, ich habe auch nicht drauf geachtet, dass die SU formal erst 1922 gegründet wurde. Übrigens ein Jahr nach dem Frieden von Riga, der wurde nämlich 1921 geschlossen. Halten Sie es bitte dem Stress und der Eile zugute, unter der solche Beiträge manchmal entstehen.

Aber abgesehen davon: Müssen wir uns hier wirklich auf die Ebene nationaler Schacherei begeben und diskutieren, was wann wem gehört hat? Das zaristische Russland hat sich die Territorien, die man heute die Ukraine nennt, in mehreren Schritten zwischen 1654 und 1795 einverleibt. Auch das heutige Belarus war vorher Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Das ist vom Standpunkt der lokalen Bauern völlig egal gewesen, ihnen wurde unter beiden Regimes die Haut abgezogen. Der polnische Krieg von 1919 war einer, der verhindern sollte, dass die Ukraine wieder unter russische Kontrolle kommen sollte. Pilsudski setzte deshalb auf eine Kooperation mit Semjon Petljura, der sich aber militärisch gegen die Rote Armee nicht durchsetzen konnte. Die Rote Armee ihrerseits vertrieb die Polen und Petljura aus der Ukraine, auch aus der rechts (westlich) des Dnjepr gelegenen, wo die Hochburgen des ukrainischen Nationalismus lagen, und trieb die Offensive bis vor die Tore von Warschau. Was ihr nicht gelang, war, die polnischen Arbeiter und Bauern für das Projekt Revolution zu begeistern; die polnischen Volksmassen rannten lieber den heimischen Pfaffen und Nationalisten hinterher. Das ist die entscheidende Wurzel der sowjetischen Niederlage im August 1920. Man kann das bedauern und lange darüber spekulieren, welche langfristigen Folgen das für die SU selbst hatte. Es hilft aber nichts, die Tatsachen sind, wie sie sind. Und der Vertrag von Riga war faktisch ein Kompromiss zwischen Warschau und Moskau. Für beide Seiten ging es um strategisches Vorfeld, und so haben sie sich auf eine Linie geeinigt, 250 Kilometer östlich der Curzon-Linie, die die Alliierten gemäß den ethnischen Verhältnissen gezogen hatten. Ich weiß, dass es den Ukrainern und Weißrussen in Polen politisch nicht gut ging; den Ukrainern, soweit sie Bauern waren, unter der Sowjetmacht ab 1928 auch nicht besonders. Pragmatisch gesagt: Vom Standpunkt der Militärtechnik und des Kriegs-Transportwesens reichte den Sowjets 1921 das Vorfeld, das sie 1921 erreichten. 1939, unter anderen Bedingungen, reichte es ihnen nicht mehr. Kann man nachvollziehen. Auch, dass sie sich von dem stets fanatisch antisowjetischen Polen ihren Teil abschnitten, nachdem es die Nazis besiegt hatten, ohne auf polnische Befindlichkeiten groß Rücksicht zu nehmen.

Kurz und gut: Ich hatte eine begrenzte Zeichenzahl zur Verfügung, um dem Publikum eine komplexe Konfliktlage zu präsentieren. Man kann immer darüber diskutieren, was man eventuell hätte anders machen können oder sollen. Aber ich sehe meine Aufgabe nicht darin, polnische imperiale Ansprüche zurückzuweisen, während ich gleichzeitig russische legitimiere.

Mit freundlichem Gruß

Reinhard Lauterbach