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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Repression: Krise und Faschisierung vom 03.08.2018:

Widersprüche

Paul Weiler, den ich bisher nicht in Erinnerung hatte, hat ja einen dankenswerten Artikel geschrieben, nur stellt das, was er gleich in seinem ersten Absatz (Zeilen 1 bis 17) schreibt, einen klaren Widerspruch zu dem dar, was an späterer Stelle (Absatz unmittelbar vor dem Abschnitt »Ideologische Begleitmusik«) zu lesen ist. Dort steht nämlich etwas von »tiefgreifenden Veränderungen … im institutionellen Gefüge«, von »Einflussverschiebung hin zu informellen Gremien, privaten Konzernlobbyisten, nicht gewählten supranationalen Institutionen und den exekutiven Organen«, von »verdeckter Kooperation von ›Sicherheitsbehörden‹ mit Netzwerken aus dem terroristischen und kriminellen Untergrund« und dass »der Staat selbst zu einer Art Unternehmen (mutiert), das hoheitliche Aufgaben an private Träger abtreten kann«. An dieser Stelle kann noch daran erinnert werden, dass Lobbyisten privater Konzerne inzwischen schon einen Großteil der Gesetzesentwürfe schreiben. Das passt nun gar nicht dazu, dass der Staat kein »reines Werkzeug der herrschenden Klasse« und »seine Aufgabe als ein ›Staat des Kapitals‹« lediglich »vorrangig« seien. Es ist aber sehr einfach, diesen Widerspruch aufzuklären, schließlich beziehen sich die Aussagen des Eingangsabsatzes auf Nicos Poulantzas’ »Klassenkampf und Repression« aus dem Jahre 1973! Da kann man erkennen, was sich in den vergangenen 45 Jahren getan hat!
Zu den »erweiterten Möglichkeiten der Polizei«, die dieser erlauben, »Anlass für polizeiliche Einmischung … durch ihr Auftreten selbst schaffen«, gehören ja auch die durch den Hamburger Polizeisprecher Timo Zill (im Film »Hamburger Gitter«) so bezeichneten »Tatbeobachter« (vulgo »Agents provocateurs«). Und wer hinter terroristischen Anschlägen wirklich steckt, wird ja nur selten plausibel für diejenigen aufgeklärt, die sich nicht mit einem am Tatort »gefundenen« Personendokument abspeisen lassen wollen.
Was die regionale Geltung von Paul Weilers Aussagen angeht, so macht er da keine definitiven Angaben. Wenn er schreibt, dass die »bürgerliche Herrschaft … bisher offenkundig nicht in den Ausnahmestaat des offenen Faschismus umgeschlagen ist«, etwa durch »das Auftreten faschistischer Uniformen im Straßenbild« oder »das Verschmelzen mit oder die Übernahme der Staatsapparate durch rechte Organisationen«, so sehe ich das zumindest für die Türkei und die Ukraine durchaus als nicht mehr gegeben an. Wenn ich daraus ableite, dass für Paul Weiler lediglich die BRD in seinem Fokus steht, so fällt auf, dass er einmal speziell auf »Faschisierung in Bayern« zu sprechen kommt, obwohl ich befürchte, dass es etwa in Sachsen nicht viel besser bestellt ist. Gefallen hat mir übrigens im letzten Abschnitt die Aussage, es sei »ein leichtes, den tatsächlichen Bedarf der Menschen in Echtzeit zu ermitteln«, weil mir dazu einfiel, wie zumindest früher Betriebswirten beigebracht wurde, die »Aufgabe des Betriebs ist die Bedarfsbefriedigung« (Günter Wöhe 1966). Wo kämen die Kapitalisten heutzutage denn hin, wenn sie sich auf Bedarfsbefriedigung beschränken müssten?
Ortwin Zeitlinger
Veröffentlicht in der jungen Welt am 07.08.2018.