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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Österreich: Die abgewürgte Revolution vom 02.08.2018:

Unheimliche Kontinuität

Der Beitrag ist insgesamt gut und richtig, gerade indem er die fast unheimliche Parallelität zwischen den Abläufen in Deutschland und »Deutsch«-Österreich mit dem Sieg der jeweiligen »Kaisersozialisten« über die Revolutionäre in der Arbeiterbewegung der beiden Länder (v. a. unter der Losung der »Einheit der Arbeiterklasse«!) 1918–19 klarmacht, der am Ende zu Hitler und Dollfuß führte, er enthält aber m. W. Fehler bei der Darstellung der Wiener Balkanpolitik. So wurden Bosnien und die Herzegowina von Österreich-Ungarn 1908 regelrecht annektiert, nicht okkupiert, unter »k. und k.«, also Wiener Verwaltung (und Okkupation) waren sie schon seit der Berliner Konferenz 1878, mit der die Ergebnisse der russisch-bulgarischen Kämpfe gegen das Osmanenreich größtenteils revidiert werden konnten. Die meist orthodoxen (also »serbischen«) Bauern von »BiH«, die einen gemeinsamen Staat mit Serbien wollten (und z. T. noch immer wollen!), wurden durch das Paktieren der neuen fremden Herren mit den muslimischen Feudalherren und der Stadt-»Radscha« bei der Verhinderung eines solchen Staates herausgefordert – die Motivation Gavrilo Princips, des Attentäters am 28. Juni 1914!
M. E. unbedingt zu erwähnen sind die Balkankriege 1912–13 als unmittelbare »Wegbereiter« des Ersten Weltkrieges. Denn damit verloren die nunmehrigen ungleichen »Verbündeten« Deutschland, Österreich-Ungarn und Türkei ihre letzte territoriale Verbindung miteinander (über den Sandschak Novipazar, der zwischen den beiden russischen »Verbündeten« Serbien und Montenegro aufgeteilt wurde). Ein klarer Sieg der russischen Balkanpolitik!
Als dann das inzwischen zu Wien neigende Bulgarien im Zweiten Balkankrieg 1913 von einer Koalition besiegt wurde und erhebliche territoriale Einbußen erlitt, wurde das von den »Mittelmächten« als »nicht mehr hinzunehmende« russische Eindämmung ihres Einflusses auf dem Balkan empfunden. Eine Gelegenheit zum Losschlagen fand sich. (Keineswegs handelte es sich um ein »Hineinschlittern« in den großen aus einem angeblich angestrebten »lokalen Krieg«! Wien suchte ständig Rückendeckung bei Preußen-Deutschland! Gegen Russland!) Serbien bzw. Jugoslawien als Russlands Verbündeten niederzuwerfen wurde daher (wie dann wieder 1941 und 1999!) zur fixen Idee der Großbourgeoisie in Deutschland und Österreich – 1999 dann sogar unter direkter Beteiligung der SPD und der Grünen an der Regierungsmacht in Berlin.
Heute befördern faktisch alle Bundestagsparteien die Eingliederung aller exjugoslawischen Staaten in die EU. Wozu sie aber zuerst NATO-Mitglieder werden sollen! (Österreich, Schweden, Finnland, Irland, Malta, Zypern mussten das bis heute nicht, jedenfalls nicht auf dem Papier.) Serbien leistet dabei dem Aggressorenbündnis, unter dessen Bombenterror es 1999 monatelang gelitten hat, den letzten, aber nur noch geringen Widerstand. Auch da rückt die USA-NATO-EU voran.
PS: Wieso am heutigen 2.8. kein Artikel zum Verhalten der deutschen (!) Sozialdemokratie genau vor 104 Jahren erscheint, bleibt das Geheimnis der jungen Welt. So sehr »ausgelatscht« ist das Thema nämlich m. E. nicht!
Volker Wirth
Veröffentlicht in der jungen Welt am 03.08.2018.