4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Kapital und Arbeit: Diebstahl fremder Arbeitszeit vom 02.03.2018:

Das Kollektiv entwickeln

Es geht nicht um Diebstahl, lieber Harald, liebe Freunde und Genossen. »Eigentum ist Diebstahl«, hieß es im 19. Jahrhundert. Diese Zeiten sind wirklich vorbei. Lebenszeit, Lebensarbeitszeit, Arbeitszeit tritt der Arbeiter (und Angestellte!), um zu überleben, einem Fremden, dem Eigentümer der Produktionsmittel und -bedingungen, ab. Befristet. Er verleiht, vermietet, verleast seine Arbeitskraft. Bis hierher ist das noch nicht erniedrigend. So wie ein Hausbesitzer eine Wohnung vermietet, eine Leasingfirma einen Leihwagen, eine Bahnlinie einen Sitzplatz im Waggon zwar vulgo »verkauft«, de facto aber vermietet (verkauft wird wie bei jedem Ticket das Recht zur Nutzung – auf Zeit). Ja, und so ist es auch bei der »modernen Lohnsklaverei« bzw. beim »Arbeitskraftunternehmer«, der doch folglich »Arbeitskraftverleihunternehmer« heißen müsste.
Der Nutzer zahlt eine Leihgebühr an den Verleiher. Aufgrund eines – unbefristeten oder befristeten – Vertrages.
Konnten sich in der Antike überschuldete Bauern selbst samt Familie in die Sklaverei verkaufen, womit auch die Sorge um ihren Unterhalt auf den Sklavenhalter fiel (die marktorientierte »Vernutzung durch Arbeit« von Sklaven in der Plantagen- und Bergbau-Sklavenwirtschaft zu Beginn der kapitalistischen Moderne, die dann von den Nazis in KZ-Arbeitslagern perfektioniert wurde, war noch unbekannt), so ist das nun im Kapitalismus anders:
Das Eigentum an der Arbeitskraft verändert sich nicht! Der Eigentümer muss sich um die Erhaltung, Erneuerung, Wartung, also Reproduktion seiner Arbeitskraft, weitgehend autonom kümmern. Dafür braucht er Lebensmittel im weiteren Sinne des Wortes. »Es muss reichen«, um nicht zu verhungern, um wohnen und sich kleiden zu können etc. und um eine Familie unterhalten zu können. Nie wird doch der Arbeiter als Ganzes Eigentum des Kapitalisten! Schon im »Manifest« heißt es dazu, soweit ich mich erinnere: »Er verkauft sich in Stücken« – Stücken seiner Zeit, Stücken seines Organismus, der ja noch viele weitere, vom Kapital nicht verwertbare Komponenten enthält.
Wofür und mit welchem Nutzen die Ausleihe oder Mietung erfolgt, hat den Verleiher nicht zu interessieren.
Da wird es erniedrigend – es bleibt aber in der Logik des Kapitalismus.
Was ist mit dem Gegenwert, dem Äquivalent? Da regiert der Markt – Angebot und Nachfrage. »Jedem das Seine.« Ganz brutal und emotionslos. Oft über die Grenzen des Erträglichen hinaus.
Die Interessen beider Klassen stehen sich diametral, konfrontativ gegenüber:
Der Arbeitskraftausleiher ist an einem großen Angebot interessiert, an vielen Kindern (da stellt sich aber die Wirkung erst langfristig ein), vielen Einwanderern im arbeitsfähigen Alter (das wird eher wirksam) usw. – und an rückläufiger Nachfrage: durch Einsparung von Arbeiten, deren Verlagerung in Niedriglohnländer, Automatisierung, den Einsatz von Maschinen, Ausrüstungen, Computern etc.; dann kann er den Preis/Lohn drücken.
Der Arbeitskraftverleiher (Arbeiter) ist umgekehrt an einer Einschränkung des Arbeitskräfteangebots sozialökonomisch interessiert: an weniger Kindern, weniger Einwanderern, weniger Produktionsverlagerung, weniger Automatisierung bzw. Digitalisierung. Wo er sich »rar machen« kann, v. a. durch spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten (und seien es auch »nur« flinke Füße als Fußballer oder verwertbare Künstlerqualitäten), kann er ein Einkommen auch über die individuellen und sozialen (familiären) Reproduktionskosten seiner Arbeitskraft weit hinausgehend erzielen – und zieht dann eventuell die Aufmerksamkeit des Kapitals auf sich, das diese Kosten unbedingt drücken will und muss. Die Arbeitermassen, sofern noch vorhanden, haben diese Möglichkeit eher nicht.
Es gibt nicht »von Natur aus« ein Anrecht des Verleihers der Arbeitskraft auf den Effekt der Ausleihe. Der geht ihn nichts an – meint jedenfalls das Kapital. Und setzt ihn bei »Unbescheidenheit« vor die Tür! Er meint, es gehe ihn doch an – das ist eben der Klassenkampf, der ökonomische bzw. soziale! »Wo und wie entsteht denn der Mehrwert?« Aber der ergibt sich aus der Kombination von Arbeitskraft, Arbeitsmitteln und Arbeitsgegenständen in mehr oder weniger gut organisierter Form. Wem gehört er also?
Doch noch schlimmer, als zuwenig Lohn zu bekommen, ist halt, gar keinen Lohn zu bekommen – für die kapitalistische Wirtschaft nutzlos zu sein. Und eine andere haben wir nicht mehr oder noch nicht.
Gegen die Einsichten selbst eines Henry Ford ist das Kapital »animalisch« an »Jobless growth« oder sogar »Growth with unemployment« interessiert – der Steigerung der Produktion ohne zusätzliche oder sogar mit weniger Arbeitskräften. Dann kommt der Absatz – zunächst regional, dann national – tendentiell zum Halt. Die herrschende Klasse konsumiert nicht genug für die Massenproduktion, die auch einen Massenkonsum will. Doch jeder einzelne Unternehmer stellt ihr ein Bein, wenn er immer weniger Arbeiter beschäftigt oder ihnen weniger Lohn zahlt.
Zu diesem inneren Übel kommt noch ein »mehr äußeres«: die Möglichkeit der Trennung von Kauf und Verkauf durch den Kredit. Gewaltige Hypotheken- und Darlehens-»Blasen« bilden sich, »platzen« und schlagen aus der Finanz- auf die Produktionssphäre zurück, die teilweise zum Stillstand kommt. Regelmäßig alle 6–8 Jahre. Aber das kann auch länger andauern. Klassisch: 1928/29! Ergebnis: Kriege – erst kleinere, dann der ganz große.
Frühere, »natürlichere« Produktionsweisen kannten diese ursächlichen Übel nicht. (Kriege ja – aber anderer Art.) Diese Übel können zwar durch die Kämpfe der Arbeiter bzw. ihrer Gewerkschaften und Parteien gedämpft und verzögert, aber im Rahmen dieser Produktionsweise nicht völlig beseitigt werden. Linkskeynesianische Investitionsprogramme (Deficit spending) des (d. h. eines von Linken dominierten) Staates könnten dämpfend wirken, auch wenn sie akkumulierte Geldvermögen entwerten (das betrifft die Ärmsten ohnehin nicht). – Dagegen hat das Finanzkapital ja den Riegel der »schwarzen Null« vorgeschoben.
Eine Schlussfolgerung: Der Unternehmer mietet Arbeitkräfte und nutzt seine Arbeitsmittel, Gebäude usw., um Profit zu machen – warum nicht umgekehrt (doch das geht nur fest organisiert und kollektiv, bei ihm diese Produktionsmittel leasen)? Durch eine umfassende autonome Arbeiterorganisation? Das wäre gerade in Niedrigzinszeiten attraktiv! Dann gehen ihn die Effekte der Nutzung »seiner« Arbeitsmittel nichts mehr an! So wie es vorher beim Arbeiter war ...
In Krisenländern gibt es heute viele solche Formen der Arbeiterselbstverwaltung, aber sie stehen einer feindlichen ökonomischen Umwelt gegenüber, die sie verschlingen will, sobald sie wieder »laufen« können.
Die einfachere, revolutionäre Methode ist »die Expropriation der Expropriateure«, sie sollte nur nicht in eine quasi absolutistische (»spätfeudale«) staatsbürokratische Wirtschaft münden, bei der der einzelne Arbeiter weiterhin seine Arbeitskraft vermietet (bzw. seine Lebenszeit verkauft), also sich weitgehend selbst um die eigene und familiäre Reproduktion zu kümmern hat (China heute, z. T. osteuropäische Länder), sondern muss zu autonomen Arbeiterproduktionseinheiten führen, die dann im Rahmen der Verträge und Gesetze außer Material auch Löhne, Steuern, Zinsen, Renten für genutzte Resourcen zahlen – an die Arbeiter (also quasi sich selbst), an den Staat, die verstaatlichten Banken, die Regionaleinheiten (Provinzen, Bundesländer), die Gemeinden usw. Und die Überschüsse sind dann für die Entwicklung des Kollektivs sowie die Bedürfnisse des Gesamtstaates.
Dann gibt es höchstwahrscheinlich auch keinen solchen Anstieg der psychischen Leiden der »Arbeitnehmer« bzw. Arbeitskraftvermieter wie (…) im letzten Absatz beschrieben.
Volker Wirth
Veröffentlicht in der jungen Welt am 07.03.2018.
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