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Leserbrief zum Artikel Kommentar: Völkermorderprobt vom 19.08.2017:

Bierpfützen und Hähnchenknochen

Es ist doch mehr als grotesk, das Verteidigungsministerium wie die Bundeswehr zu beobachten, wie sie sich im Umgang mit rechten Auswüchsen und der Wehrmachtsnostalgie in der Truppe einen abbrechen. (…) Ich selbst wurde 1993 als »Westbürger« für ein Jahr zur Wehrpflicht nach Brandenburg in ein Panzergrenadierbatallion eingezogen. Die erste große Klage der meisten Zeit- und Berufssoldaten dort, die ich hörte, war: Wir haben unser Feindbild verloren! Das monierten die westdeutschen Bundeswehrangehörigen und die assimilierten ehemaligen »NVAler« ebenso. Was in beiden Fällen ja auch zutraf. Bezeichnend – auch für die einstigen »Ostsoldaten«: Alle hegten größtes Interesse an »Wehrmachtsgeschichte«. Die Unteroffiziere lebten ihre Phantasien in einem infantilen Trieb aus, Kriegsgerät aus jener und der Zeit von 1914–1918 nachzubasteln. Selbst konnte ich die Sammlungen mit »Dicken Berthas« und »Tiger«-Panzern in vollgestellten Stuben bestaunen. Kein Stück der Infragestellung der deutschen Geschichte, auch nicht durch die von der NVA in die Bundeswehr übernommenen Soldaten.
Bei gemeinschaftlichen Filmabenden des Unteroffizierkorps huldigten sie den »Helden von Stalingrad« oder einem »Steiner« (»Das Eiserne Kreuz«). Dass die Wehrmacht Verlierer war, wurde völlig ausgeblendet. Dies zeigte mir die Haltung von Unteroffizieren in persönlichen Gesprächen. Als Soldat der Kompanieführung hatte ich oft die fragwürdige Ehre, die Unteroffiziersmesse am Tag danach von den Relikten der feuchtgröhligen Männerabende, von Bierpfützen und abgenagten Hähnchenknochen zu reinigen. Wie die meisten Wehrpflichtigen damals hatten wir für das Ganze nur Unverständnis und Abscheu übrig. Doch darin zeigt sich mir, wie einfach und wirkungsvoll die Verherrlichung der Wehrmachtstradition taugte, zwei Armeen zu verschmelzen, obwohl sich die eine sicher wenig bis gar nicht auf diese »Traditionen« berufen hatte.
So ist es bis heute. Die eigene schmutzige Vergangenheit dient dazu, die Soldat(inn)en mit der offen gelebten wie heimlich gehegten Glorifizierung des Heldentums des »deutschen Soldaten« bei der Stange bzw. beim Gewehr zu halten und zu einen. Denn darum geht es wohl, das eigene kümmerliche Dasein mit dem strahlenden Nimbus der Tapferkeit aufzuwerten. Für dieses hehre Streben und die Anerkennung bleibt es immer lohnend zu dienen und zu kämpfen. So erklärt sich mir unter anderem die Halbherzigkeit im Umgang der Regierenden mit den rechten Auswüchsen in der Bundeswehr, wenn die Truppe schlagkräftig sein soll. Politisch aufgeklärte und für Unrecht sensibilisierte Soldat(inn)en taugen nicht zu Gehorsam und der Barbarei des Tötens.
Marc Sträb
Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.08.2017.