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Aus: Ausgabe vom 03.05.2024, Seite 6 / Ausland
EU-Wahlen

»Meloni sitzt fest im Sattel«

Serie. Aufstieg der Rechten (Teil 3 von 7): Italiens Premierin verkauft sich als Garantin einer stabilen Regierung. Ein Gespräch mit Giuliano Marrucci
Von Mawuena Martens
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Linke und Gewerkschafter protestieren, doch bringen tut es nichts (Rom, 17.11.2023)

Am 9. Juni wird das EU-Parlament neu gewählt. Das nehmen wir zum Anlass für eine Serie, die sich mit dem Aufstieg extrem rechter Kräfte in Europa beschäftigt. Die siebenteilige Reihe erscheint in Zusammenarbeit mit der dänischen Zeitung Arbejderen, der schwedischen Wochenzeitung Proletären und dem britischen Morning Star. Die Beiträge werden in allen vier teilnehmenden Zeitungen veröffentlicht, nachfolgend ein Interview von Mawuena Martens für junge Welt. (jW)

Seit eineinhalb Jahren wird Italien von drei rechten Parteien unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni regiert. Was hat die Regierung bisher politisch umgesetzt, und wer profitiert davon?

Meloni folgt der Strategie der langsamen Zermürbung der modernen Demokratie und des Sozialstaates, um das Land immer stärker den Interessen der Finanzwelt unterzuordnen. Sie hat zwar einige Andeutungen gemacht, zum Beispiel, dass sie für das italienische Finanzwesen in Opposition zu den internationalen großen Playern gehen und eine Steuer auf Extraprofite erheben würde. Doch schon einen Tag später hat sie das wieder relativiert. Giorgia Meloni war die stärkste Gegnerin der Vorgängerregierung von Mario Draghi. Doch jetzt, wo sie selbst an der Macht ist, führt sie seine Politik fort.

Ein paar Wahlgeschenke hat sie auch gemacht, zum Beispiel die Rücknahme der Sozialhilfe für Erwerbslose, des sogenannten Bürgergelds. Das war gut für ihre Unternehmerklientel, denn das Bürgergeld half vielen Italienern besonders im Süden im Kampf gegen die niedrigen Löhne. Das zweite Wahlgeschenk ist eine Steuerreform, der sogenannte Fiskalpakt. Der begünstigt diejenigen, die vielleicht einen SUV zu Hause haben und ein Sommerhaus am Strand, die sich diesen Lebensstandard aber nicht leisten könnten, müssten sie höhere Steuern zahlen.

Umfragen zeigen, dass die Regierungskoalition ihre Zustimmungswerte halten kann. Worauf fußt dieser Erfolg noch?

Auf den mangelnden Alternativen. Zwar gibt es Versuche der Sozialdemokraten vom Partito Democratico und der Fünf-Sterne-Bewegung, einen Oppositionsblock zu bilden, doch stellen sie keine glaubwürdige Regierungsalternative dar.

Weshalb nicht?

Weil sie keinerlei Unabhängigkeit vom Diktat der EU, der europäischen Oligarchie und Washington aufweisen. Die fortschrittlicheren Positionen der Fünf-Sterne-Bewegung könnten sich in einem solchen Mitte-links-Bündnis nicht durchsetzen. Gleichzeitig haben Melonis Fratelli d’Italia, kurz FdI, eine feste Wählerbasis. Diese ist zwar bei einigen Themen anderer Meinung, beispielsweise dem Kriegskurs gegen Russland, letztlich verbindet sie aber die Gegnerschaft zum alten Feind: den »Kommunisten« – also allen, die nicht zum eigenen politischen Projekt passen.

Meloni ist es gelungen, durch eine noch stärkere Anbindung an die USA als bevorzugte Ansprechpartnerin gesehen zu werden. Sie kann sich als Garantin einer stabilen Regierung verkaufen. Und da es überhaupt keine nennenswerten Gegenmodelle – weder »von unten« noch »von oben« – gibt, sitzt sie fest im Sattel. Und: Sie spricht ab und an das Bauchgefühl des Volkes an, gibt sich aber gleichzeitig so seriös und an das System angepasst, dass dies in Brüssel oder Washington keine Sorgen hervorruft.

Wer steht hinter der Rechtsregierung?

Das sind kleine Mittelständler, aber auch Bankengruppen wie die Banca Intesa Sanpaolo und Unicredit. Vor allem besteht es aber aus kleinen Selbständigen und Unternehmern, die von Beschäftigung in Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung profitieren. Auch mit dabei ist das verarmte und von der Globalisierung abgehängte Kleinbürgertum.

Und wie sind die Rollen innerhalb der Koalition verteilt?

Melonis Partei führt sie klar an. Fratelli d’Italia steht in der Tradition des Faschismus, vor allem rhetorisch. Die Parteimitglieder sind traditionelle, konservative Rechte, die an dem Bild von Benito Mussolini als »Bewahrer« der nationalen Unabhängigkeit festhalten. Dann gibt es Forza Italia, die Partei des verstorbenen Silvio Berlusconi. Sie ist sehr unternehmerorientiert, ihre Interessen sind vor allem konkret machtpolitisch, beispielsweise beim Zugriff auf EU-Gelder. Und ihre Wählerschaft steht für einen nationalen Kapitalismus. Die Forza Italia ist kritischer, was den Kriegskurs gegenüber Russland sowie die Ukraine-Politik angeht, und sieht die Unterordnung unter das internationale Establishment mit gewisser Skepsis. Dritte im Bunde ist die Lega. Sie steht der US-amerikanischen »Alt-Right«-Bewegung nahe. Sie wurde als föderalistische und teils auch separatistische Partei des reichsten Teils des Landes im Norden geboren. Ihre Wählerschaft besteht hauptsächlich aus kleinen und mittelständischen Unternehmern Norditaliens. Allerdings wurde diese zum großen Teil von den FdI absorbiert.

Muss Meloni die Gewerkschaften oder die Linke fürchten?

Die Gewerkschaften sind gegen die Regierung und mitgliederstark, haben aber kein politisches Gewicht. Die CGIL ist zwar riesig und besteht teils auch aus sehr kämpferischen Elementen, ist jedoch nicht fähig, sich wirklich zu organisieren und über die lokale Ebene hinaus zu mobilisieren. Und eine ernstzunehmende Linke exisiert in Italien nicht mehr. Die radikale Linke findet sich nur noch auf den Straßen. Dann gibt es noch die reformistische Linke, die sogenannten Innenstadtlinken. Also Studenten, junge Intellektuelle, die akademische Welt, das Bildungsbürgertum, Italiener mit mittlerem bis hohem Einkommen sowie Angestellte des öffentlichen Dienstes. Allerdings stellen sie keine Mehrheit dar. Und mit dem Staatssender RAI hat die Regierung einen ziemlich großen Hebel in der Hand, um die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Folgt aus der Tradition, in die sich die FdI stellt, die erneute Gefahr eines Faschismus an der Macht in Italien?

Ich halte nichts von dieser Interpretation. Die Regierung beziehungsweise die FdI stehen zwar in jener Tradition und sind nostalgisch. Tatsächlich macht sie jedoch Realpolitik. Für mich bestand die Gefahr der Rückkehr des Faschismus eher mit den Sozialdemokraten unter Matteo Renzi: Dieser hatte 2016 ein Verfassungsreferendum konstruiert, das sich gegen die republikanische, antifaschistische Verfassung richtete.

Giuliano Marrucci ist Journalist in Italien und Gründer des linken Medienkollektivs Ottolina TV

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  • Leserbrief von Doris Prato (6. Mai 2024 um 11:58 Uhr)
    Neben zutreffenden Einschätzungen helfen Meinungen, dass es sich bei den Fratelli Italiens (FdI) und ihrer Regierung, um keine »Gefahr eines Faschismus an der Macht« handelt, eben gerade, dass Meloni »fest im Sattel« sitzt. Deren Charakter wird dann durchweg auch noch als Benennung einer »rechten Regierung« von »rechten Parteien« verharmlost. Gerade hat der renommierte Schriftsteller und Universitätsprofessor für Literaturwissenschaft in Mailand, Antonio Scurati, entlarvt, wie Meloni in den Fußstapfen des Faschismus Mussolinis watet, und ist dafür als Moderator bei der RAI geschasst worden. Er bestätigte nur, was zahlreiche Stimmen nach Melonis Regierungsantritt bereits einschätzten. Die 2023 verstorbene Schriftstellerin und katholische Antifaschistin Michaela Murgia schrieb, dass unter Meloni der Faschismus »nicht droht«, sondern »wir schon mitten drin im Faschismus« sind, der »neue Formen entwickelt, die wir nur schwer durchschauen« (wozu wohl auch der Interviewte gehört), weil der Übergang »nicht mehr mit klassischer Waffengewalt erfolgt«, sondern »durch die Manipulation der demokratischen Instrumente, mit der man ein ganzes Land faschistisch machen kann, ohne auch nur einmal das Wort ›Faschismus‹ auszusprechen«. Die Chefredakteurin der linken Zeitschrift Il Manifesto, Norma Rangeri, schrieb, dass Meloni nach ihrem Wahlsieg eine »Regierung reueloser Faschisten« gebildet hat. Diese Regierung vertritt die reaktionärsten Kreise des Imperialismus, die auf den Krieg setzen und das nicht nur in der Ukraine, sondern, wie die Entsendung einer Gruppe von Kriegsschiffen mit dem Flaggschiff der italienischen Kriegsmarine, dem Flugzeugträger »Cavour« an der Spitze, in den Pazifik zur Frontstellung gegen China, zeigte. Für diesen Kriegskurs steht Melonis Verteidigungsminister Guido Crosetto, mit ihr Gründer der FdI und als Präsident des Verbandes italienischer Unternehmen für Luft- und Raumfahrt, Verteidigung und Sicherheit (AIAD) der Confindustria, Lobyist der Rüstungsindustrie, an der Spitze der italienische Luft-, Raumfahrt- und Rüstungskonzern Leonardo, der unter Meloni in Turin ein neues High-Tech-Zentrum errichtet. Für den Start eines von der EU-Raumfahrtbehörde ESA bis 2028 geplanten eigenen Raumschiffes, produziert Leonardo die zweistufige Trägerrakete »Ariane 6« und will sie noch dieses Jahr auf die Startrampe bringen. Angesichts dieser Fakten frage ich mich, in welcher Gedankenwelt lebt dieser Marucci, den die junge Welt für dieses Interview an Land gezogen hat. Mit diesem Stil wird er wohl im großbürgerlichen Corriere della Sera, dessen Autor er auch ist, ankommen.

In der Serie Aufstieg der Rechten:

Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind am 9. Juni aufgerufen, das EU-Parlament neu zu wählen. Aus diesem Anlass berichtet die junge Welt vom Aufstieg extrem rechter Kräfte in verschiedenen europäischen Ländern. Im Rahmen dieser Serie werden sowohl Artikel als auch Interviews und Analysen veröffentlicht.

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