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Aus: Ausgabe vom 03.02.2024, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
25 Jahre »Rohnstock Biografien«

»Man spürt bis heute, wie sehr sie sich angestrengt haben«

Über unverzichtbare DDR-Erfahrungen, das Sammeln von Lebensgeschichten und Erzählen als heilsames Wundermittel. Ein Gespräch mit Katrin Rohnstock
Interview: Marc Bebenroth
Fordern gerechte Abfindungen: Beschäftigte aus Metall- und Elektrobetrieben in Südthüringen protestieren vor der Suhler Treuhand-Niederlassung (1.7.1991)
Arbeiterinnen im VEB Henneberg-Porzellan in Ilmenau (undatiert)

Ihr Verlag »Rohnstock Biografien« konnte im vergangenen Jahr sein 25. Jubiläum begehen. Welche Geschichten haben Sie zuletzt besonders in den Blick genommen?

Wir haben uns zuletzt intensiv mit der Wirkung der Treuhand-Problematik beschäftigt. Durch unser Erzählprojekt in der Lausitz, in dessen Rahmen über 500 Menschen ihre Geschichte anhand von Geschichten erzählten, wurde uns das traumatische Ausmaß der »Wende«-Zeit mit ihren millionenfachen Entlassungen so richtig bewusst. Deshalb hat uns die Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019 beauftragt, eine Wanderausstellung über die Auswirkungen der Treuhand-Politik auf die Ostdeutschen zu kuratieren. Die Schau »Schicksal Treuhand – Treuhand-Schicksale« ist seither in vielen Städten gezeigt worden, es entstand auch ein ausführliches Begleitbuch; 2022 und 2023 tourten wir mit ihr durch Thüringen … nach Eisenberg, Großbreitenbach, Suhl, Diedorf, Katzhütte, Unterwellenborn, Ilmenau, Bischofferode. Die Ausstellung nahmen wir zum Anlass, Zeitzeugen aus den Orten erzählen zu lassen, wie sie die Schließung ihrer Betriebe erlebt hatten.

Ist so also auch die von Ihnen 2022 verfasste Broschüre »Möbelwerker erzählen. Das Treuhand-Schicksal des Möbelwerks Eisenberg« entstanden?

Genau. Es sind die authentischen Erzählungen der Möbelwerker. Sie erzählten, wie sie sich abrackerten, wie sie alles taten, um »ihr« Werk zu retten. Wie sie im Westen überflüssige »Weiterbildungen« absolvierten, auf Messen fuhren, demonstrierten … doch nichts half. Das ist eine Grunderfahrung vieler Ostdeutscher.

In »Möbelwerker erzählen« dokumentieren Sie den Austausch während eines »Erzählsalons« zur Geschichte des Möbelwerks und zu den erlebten Geschichten seiner ehemaligen Arbeiter. Was ist ein Erzählsalon?

Der Erzählsalon ist ein hierarchiefreies, moderiertes Veranstaltungsformat, das ich vor etwa 20 Jahren entwickelt habe. Nachdem fünf Möbelwerker ihre Geschichten erzählt hatten, stand eine Arbeiterin auf und sagte: »Unter denen, die viele Jahre lang im Möbelwerk arbeiteten, war auch ich. (…) Wir arbeiteten, lernten, lebten in der Firma. Und plötzlich war alles weg.« So ähnlich habe ich es oft gehört. Auch wenn die Arbeit schwer und die Maschinen zuweilen veraltet waren. In einer Gemeinschaft zu wirken, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen: Das erfüllt Menschen, ja, es macht glücklich!

Sicherlich ging es den Möbelwerkern auch darum, gute Arbeit zu leisten, mit der sie sich identifizieren konnten … und auf die sie stolz sein konnten.

Unbedingt! Man spürt bis heute, wie sehr sie sich angestrengt haben und wie stolz sie auf ihre Produkte sind. Deshalb fühlen sich viele Leute in ihrer Ehre zutiefst gekränkt, wenn DDR-Produkte diffamiert werden.

In welchen vormaligen Betrieben wirkten die Menschen, die Sie bislang zum Erzählen einluden?

In Suhl kamen sie aus dem VEB Elektro­gerätewerk und von Simson, in Unterwellenborn aus dem dortigen Zweigwerk des Stahlwerks Maxhütte, in Diedorf von der ESDA-Strumpffabrik. Auch in Diedorf wurde das Werk privatisiert, geschrumpft und nach ein paar Jahren liquidiert. Die Käufer, meist aus dem Westen, die die Betriebe oft für ’n Appel und ’n Ei von der Treuhand bekommen hatten, machten diese fast ausnahmslos bis spätestens Mitte der 2000er Jahre dicht. Die Relaistechnik Großbreitenbach wurde schon 1992 geschlossen. In dem Werk wurden die kleinsten Relais der DDR hergestellt, für die Mikroelektronik, einer der Hoffnungsträger der Industrie. Die waren »marktfähig« und mussten aus Konkurrenzgründen weg.

Welcher Geschichte sind Sie zuletzt nachgegangen?

Der von Henneberger Porzellan Ilmenau, einem 200 Jahre alten Porzellanstandort. 1973 wurde dort das größte und modernste Porzellanwerk Europas eröffnet – mit 2.000 Beschäftigten. Auch hier das Muster der Privatisierung: Zuerst stufenweise Schrumpfung auf 200 Mitarbeiter, 2002 die Schließung. Ein anderes Erzählprojekt ermöglichte uns, die klägliche Situation von Schwarzburg und dem Schwarzatal zu erkunden: In Katzhütte, wo der VEB Zierkeramik produzierte, wurden drei Werke liquidiert. Wenn in kleinen Orten, in diesem Fall mit 4.000 Einwohnern, zentrale Betriebe geschlossen werden, fehlen den Gemeinden folglich Gewerbesteuereinnahmen und es kann nichts Neues mehr entstehen.

Unser Erzählsalon in Katzhütte war ein Highlight: Es kamen acht Erzähler und 50 Besucher ins Gemeindehaus. Einige junge Leute und eine vor mehr als zehn Jahren zugezogene Westfrau hörten zum ersten Mal von den Folgen der Treuhand-Politik! Die »Wende«-Erfahrungen hängen den Leuten wie ein Klotz am Hals und schnüren ihnen die Kehle zu. Wenn endlich jemand unvoreingenommen zuhört, sind sie erleichtert. Leider trauen sich die »Wende«-Verlierer nur selten, ihre Geschichten zu erzählen. Sie haben kein Vertrauen mehr. Jobcenter und Sozialamt haben sie über die Jahre seelisch demoliert. Deshalb sind Geschichten von Verlierern besonders kostbar. Es ist bis heute ein Tabu, über Systemverluste zu sprechen. Wer darüber spricht, wird als »Jammerossi« mundtot gemacht.

Neben der erzählten Geschichte der ehemaligen DDR-Betriebe widmen Sie sich in Ihren Projekten auch den ehemaligen »Kulturhäusern« …

… und den lebendigen Erinnerungen an sie. Wir haben über mehrere Jahre hinweg Menschen aus der Region rund um das prachtvolle Kulturhaus Mestlin und den Kulturpalast Unterwellenborn, kurz »Kupa«, eingeladen, ihre Erinnerungen an ihre Kulturstätten zu erzählen, um sie sammeln, aufschreiben, sortieren und archivieren zu können. So entstand 2020 etwa die Kupa-Unterwellenborn-Broschüre »Aus Erinnerung Zukunft schmieden« und 2022 die Folgebroschüre »Der zähe Kampf um den Erhalt«.

Erst durch diese anschaulichen Erzählungen wurde mir klar, welche gesellschaftliche Bedeutung die Kulturhäuser tatsächlich hatten. Es gab DDR-weit 2.000 davon. Jeder große Industrie- oder Landwirtschaftsbetrieb unterhielt eines. Meist wurden sie in freiwilligen Aufbaustunden von den Menschen selbst errichtet. Sie waren nicht nur Zentren des kulturellen Lebens, sie waren kollektive Wohnstuben. Es wurde getanzt, gelacht, getrunken.

Was wurde der Bevölkerung alles geboten in den Kulturhäusern?

Für das »künstlerische Volkskunstschaffen« gab es zahlreiche Zirkel wie Foto- und Filmklubs, Singeklubs, Tanzensembles, selbstverwaltete Jugendklubs, Orchester. Im Kulturpalast Unterwellenborn gibt es beispielsweise einen riesigen Theatersaal, einen Hörsaal, einen Ballettsaal. Leute aus der ganzen Region wurden von den Betrieben zu Theateraufführungen in den Kupa gekarrt. Die Zirkel für bildende Kunst, für schreibende Arbeiter, für Keramik, die meist professionelle Künstler leiteten, waren begehrt: Jeder konnte sich dort kreativ betätigen und entwickeln. Die Kurse waren komfortabel mit Technik und Material ausgestattet, die Teilnahme kostenlos.

Was ist von dieser Tradition erhalten geblieben?

Manche haben ihre Werke aufgehoben. Von den Kulturhäusern wurden mehr als 90 Prozent geschlossen, viele sind als Zeugen eines »ungeliebten Zeitalters« abgerissen worden. Die Kupas in Unterwellenborn, Plessa, Gera, Hirschberg und Bitterfeld gehören zu den Ausnahmen. Doch die meisten stehen leer, entweder weil die Eigentümer, oftmals Westeigentümer, kein Interesse an kultureller Wiederbelebung haben – oder weil es keine gesicherte öffentliche Finanzierung gibt, wie es zu DDR-Zeiten üblich war. Das macht viele Menschen traurig – oder wütend.

Geht es um die DDR, dauert es nicht lange, bis der Einwand kommt, alles sei »ideologisch vorgegeben« gewesen, auch die Kunst. Wissen Sie von »politischen Vorgaben« für das, was Menschen in den Kulturhäusern anfertigten?

Alles sei »ideologisch vorgegeben« gewesen – das ist wieder so ein holzschnittartiges Narrativ. Sicher gab es kulturpolitische Ausrichtungen wie den Bitterfelder Weg, die in den 1950er und 1960er Jahren zuweilen dogmatisch ausgelegt wurden. Doch das Verhältnis zwischen Kulturpolitik und Kulturarbeitern veränderte sich in der vierzigjährigen DDR-Geschichte. Künstler, die in den 1980er Jahren Zirkelleiter waren, erzählten, dass sie »das Politische« kaum interessierte. Sie haben zum Beispiel gemalt, was sich die Kursteilnehmer wünschten. Es musste schließlich auch den Bedürfnissen der Leute entsprochen werden, sonst kamen sie nicht. Selbstverständlich gab es Auseinandersetzungen, Debatten, Streits, Konflikte: ganz normale Vorgänge, oder? Insgesamt gab es eine große, finanzielle Kontinuität in der Kulturarbeit, die dem kreativen Schaffen auch Freiheit gab – nicht vergleichbar mit der heutigen Kurzlebigkeit von Kultur- und Kunstprojekten.

Würden Sie sagen, dass das Engagement, die Dinge zum Besseren zu gestalten, unmittelbar nach der »Umbruchszeit« größer war als heute?

Damals wollten viele Leute etwas Neues aufbauen und viele Arbeitslose suchten nach Alternativen. Vereinsgründungen, kulturelles und soziales Engagement waren auch eine Bewältigungsstrategie für Arbeitslosigkeit. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Fördermittel wurden großzügig verteilt. Doch die wurden nach wenigen Jahren gekürzt. Die Euphorie wurde getäuscht und enttäuscht.

Heute sind deindustrialisierte Kommunen überaltert, viele junge Leute sind weggezogen. Insgesamt haben zwei Millionen Ostdeutsche nach 1990 das Land verlassen. Was das bedeutet, konnten wir in unserem Projekt »Altersinnovationen« erleben, das wir im Auftrag der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg durchführten – in Spremberg und Guben, niedersorbisch Grodk und Gubin, wo der Altersdurchschnitt bei 63 Jahren liegt. Kinder und Enkel leben weit weg. Das heißt, die Daheimgebliebenen können im Alter nicht auf die Nachkommen zählen. Deshalb müssen sie sich untereinander helfen. Dafür suchen sie Austausch und Gemeinschaften, sie denken sogar über Wohngemeinschaften nach. In den Erzählsalons haben wir die Menschen als zutiefst lösungsorientiert wahrgenommen. Über Parteigrenzen hinweg hörten sie einander zu.

Woran orientieren sich Menschen, wenn sie entscheiden, sich zu organisieren – an Parteien, Lokalpolitik und Rathäusern?

Sie orientieren sich an ihren Bedürfnissen. Sie wissen inzwischen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen. Damit die Selbstermächtigung funktioniert, braucht es ein wenig Unterstützung aus dem Rathaus. Die Verwaltung muss umdenken und den Bürger als mündigen Partner ernst nehmen. Die Menschen brauchen Räume, in denen sie sich treffen können, sie brauchen »Organisationsmanagement«, einen Newsletter zur Vernetzung. Das ist nicht viel im Vergleich zu dem, was geschaffen werden kann.

Wie weit kann man sich dem Abwärtstrend bei der Infrastruktur, bei der Versorgung mit Ärzten zum Beispiel, überhaupt entgegenstemmen durch eigenes Engagement?

Es gibt für viele Probleme bereits Lösungsmodelle. Die sind nur meist unbekannt. Es gibt Kommunen, die stellen Ärzte an. Es gibt Apps, die können mobile und nicht mobile Stadtbewohner miteinander verbinden. Wohngemeinschaften aller Art sollten öffentlich gefördert werden, denn so kann die Versorgung der Alten zum Teil selbstorganisiert werden. In gut funktionierenden Gemeinschaften bleiben die Leute länger geistig und mental fit. Einsamkeit macht krank. Gemeinschaftliches Leben entlastet nicht nur die Pflege- und Krankenkassen. Es ist auch kostengünstiger für den einzelnen und entlastet den Wohnungsmarkt. In der DDR musste jeder mit knappen Ressourcen umgehen und improvisieren. Das wurde mir klar durch unser »Generaldirektorenprojekt« mit seinem GD-Salon …

… mit seinem »GD-Salon«? Das heißt, Sie haben ebenso mit ehemaligen Leitern von DDR-Kombinaten gesprochen, um auch deren Geschichten zu dokumentieren?

2007 schrieben wir die Autobiographie des Bankers Edgar Most. Dadurch begriff ich, wie interessant die DDR-Wirtschaftsgeschichte ist. Mit einer Gruppe um den Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg suchten wir nach einer Möglichkeit, diese Geschichte authentisch nacherzählen zu können. Irgendwann kamen wir auf die Idee, die Kombinatsdirektoren einzuladen, die Geschichte ihrer Kombinate aus ihrer Perspektive zu erzählen. Die erste Tagung 2012 stieß auf große Resonanz. Daraus entstand, genau: der GD-Salon.

Man kann sich vorstellen, dass Sie damit anfangs auf Skepsis gestoßen sind …

… ja, auf Skepsis von vielen Seiten! In der Öffentlichkeit wird die Geschichte meist verzerrt oder verkürzt. Es gab auch Direktoren, die sich weigerten, zu erzählen. Schließlich sind sie als »Manager« über Jahrzehnte öffentlich diffamiert worden. Das frustriert. Durchs Erzählen kann sich der Frust allerdings auflösen, …

… therapeutisch quasi, …

… ja! Erzählen ist ein Wundermittel. Es ist heilsam. Es tut jedem Menschen gut, die eigenen Lebenserfahrungen in Worte zu fassen. Es macht Freude, sich dazu auszutauschen. Wir haben oft gelacht im GD-Salon.

Sie konnten trotz Skepsis eine gewisse Zahl an früheren Direktoren für das Projekt gewinnen. Wie viele sind es schließlich geworden?

Über 50 Wirtschaftskapitäne haben brillante Vorträge gehalten! Wenn ich nur an Karl Döring denke, Generaldirektor des Eisenhüttenkombinates Ost … Er ist einer der ganz wenigen, die ihren Betrieb über die »Wende« retten konnten – alles nachzulesen in seiner Autobiographie.

Gemeinsam mit dem Verein »Lebenserinnerungen« haben wir viele Veranstaltungen organisiert. Christa Bertag, Generaldirektorin des Kosmetikkombinates, Uwe Trostel, Vorsitzender der Bezirksplankommission Magdeburg und Eckhard Netzmann, Generaldirektor von SKET (Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann, jW), haben sich im Vorstand des Vereines engagiert. Im GD-Salon wurde die DDR-Wirtschaftsgeschichte kollektiv zusammengetragen – von der Grundstoffindustrie bis zur Leichtindustrie –, gemeinsam mit Professor Jörg Roesler, einer Koryphäe der DDR-Wirtschaftsgeschichte, nachzulesen in den Büchern »Jetzt reden wir« und »Jetzt reden wir weiter!« sowie auf der Webseite kombinatsdirektoren.de.

Selbstverständlich ist der Erkundungsprozess längst nicht abgeschlossen. Es gibt neue, aktuelle Fragestellungen. Die rasante technische Entwicklung, die ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme sind so drängend, dass auf die DDR-Erfahrungen nicht verzichtet werden sollte. Auch, wenn viele Fehler gemacht wurden.

Gibt es für Ihre Projekte irgendwelche Fördermittel? Finanziers?

Wir haben kleinere Zuschüsse bekommen. Doch der Erfahrungsschatz der DDR-Wirtschaftskapitäne ist so bedeutungsvoll, dass er geborgen und aufbewahrt werden muss. Zumal die biologische Uhr tickt. Ich bin froh, dass wir die Vorträge von Erfahrungsträgern, die uns inzwischen verlassen haben, gefilmt hatten, zum Beispiel von Herbert Roloff, Generaldirektor des Außenhandelsbetriebes Industrieanlagen Import, ein weltmännischer Diplomat, oder von Herbert Richter, Generaldirektor von Schwarze Pumpe, ein genialer Ingenieur und »Manager«. Ihre Beiträge, die ich gerade für einen Film bearbeite, bleiben unvergessen. Auch Karl Nendel, Staatssekretär für Mikroelektronik, lebt weiter – durch seine Autobiographie, die wir noch schreiben durften.

Auf welchen Wegen werden Sie auf Geschichten, auf Orte und Menschen aufmerksam?

Wir werden kontaktiert. Viele melden sich bei uns, weil sie ihre Lebensgeschichten erzählen wollen. Doch leider haben viele Ostdeutsche nicht das Geld, um den nötigen Aufwand zu finanzieren. Wir bekommen auch lebensgeschichtliche Manuskripte zugesandt, mit dem Anliegen, sie zu lektorieren und zu veröffentlichen. Doch nicht alles kann publiziert werden. Am besten wäre, ein digitales Archiv anzulegen – doch dafür fehlen uns die Kapazitäten.

Und wie gehen Sie so ein biographisches Projekt an?

Einer unserer Autoren fährt zu dem Menschen nach Hause und lauscht seinen Erinnerungen. Die Erzählungen werden auf Tonband mitgeschnitten und anschließend transkribiert. Auf dieser Grundlage erarbeitet der »Autobiographiker«, wie unsere Autoren heißen, eine Buchstruktur. Danach sortiert er den lebensgeschichtlichen Stoff, gibt seiner Vertextung eine Kapitelstruktur, arbeitet Spannungsbögen heraus und schleift die Sprache. Wir versuchen, den persönlichen Stil zu erhalten. Ist der Text vom Erzähler autorisiert, wird er gestaltet, auch mit aussagekräftigen Fotos, sodann gedruckt und gebunden.

Haben Sie da schon eine Roadmap, was Sie als nächstes angehen wollen?

Das Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft hat uns im letzten Herbst beauftragt, die Dialogreihe »Gespräch am Feldrand« zu konzipieren und zu moderieren. In diesem Format sollen sich Bauern mit Ministerin Susanna Karawanskij und Staatssekretär Torsten Weil »auf Augenhöhe« austauschen können. Das ist bei der komplexen Problemlage der Landwirtschaft sehr wichtig. Viele Betriebe haben wirtschaftliche Probleme, die nach strukturellen Lösungen verlangen – wie wir an den aktuellen Protesten sehen.

Unser nächstes Projekt wird der weitere Ausbau des durch »Rohnstock Biografien« geförderten Vereins »Lebenserinnerungen« sein. »Erzählen und Zuhören« … das sind soziale Basishandlungen, die in unserer Gesellschaft bedroht sind. Die Erinnerungs- und Erfahrungsweitergabe ist zentral für den Fortbestand unserer Gesellschaft. Deshalb wollen wir die Bildung eines bundesweiten Netzes von Akteuren initiieren und den Erfahrungsaustausch anregen.

Katrin Rohnstock wurde am 17. Dezember 1960 in Jena geboren, studierte Germanistik ebenda und in Berlin, arbeitete in einer Bäckerei, in einem Jugendklub, als Leiterin eines Frauenzentrums, als Publizistin und als Herausgeberin. Vor 25 Jahren gründete sie »Rohnstock Biografien«. Parallel organisiert Rohnstock »Erzählsalons«. Seit 2015 konzipiert sie im Auftrag von Verwaltungen, Ministerien und Stiftungen Erzählprojekte, um Menschen, die in der medialen Öffentlichkeit kaum repräsentiert werden, Raum und Stimme zu geben

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