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Aus: Ausgabe vom 03.02.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Eine Tüte voll Frühstück

Von Ken Merten
»Sulaymaniyah hörte am Rand schnell auf, Sulaymaniyah zu sein, und wurde Land«
»Von Katar dann bis Sulaymaniyah. Von da dann nach da, wos hin soll«
»Rohat meinte, dass das die Bibliothek dahinter wär und die Statue ein Dichter, Ehmedê Xanî, der das Kurdische in Worten und als Nation in Umlauf um die heiße Sonne gebracht hatte«

Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Roman »Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist« von Ken Merten, der soeben im XS-Verlag erschienen ist. Wir danken Verlag und Autor für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. (jW)

I. nahm sich vor, beim Landen laut zu klatschen, dass sie gelandet waren. Also nicht dem Piloten, sondern sich selber. Am Morgen hatte I. aus der Kaffeetasse mit Weihnachtsmuster Hagebuttentee getrunken, ein letztes Mal. Jetzt war da zwar noch Deutschland unter Kim und ihm, aber das änderte sich gleich. Schwuppdiwupp. Als würde man Schmu machen. Eins vor Kosmonaut. Gestiefelter Kater.

Kim und I. hatten getrennt voneinander eingecheckt und so getan, als wärn sie sich Fremde im Flughafen. Wenn schon Kim aufgehalten werden würde, weil die Fahndungsfotos von der Polizeischubserin von der Kundgebung rumgingen, war ihre Idee, hätte wenigstens I. weiterreisen können. Für I. wär das eine mittelschwere Scheiße geworden, nach Kurdistan ohne Kim.

Jetzt saßen sie gegen Kims Flugangst trotzdem nebeneinander, hatten aufwendig und auffällig Plätze getauscht und machten Händchen – Kims Handfläche schwitzte aus Nerven, I. seine aus Liebe. Erster Halt: Katar. Istanbul wär auch gegangen, aber mit dem Vorhaben der beiden wär die Türkei nur eine Option gewesen, wenn man komplett meschugge gewesen wär. Hallo, Herr Erdoğan, nimm uns, nimm uns bitte fest!

Von Katar dann bis Sulaymaniyah. Von da dann nach da, wos hin soll.

Im Flieger ab Katar waren beide dann die einzigen beiden Blonden. Beim Zwischenlanden hatte I. dann doch nicht klatschen wollen, weil da die eine Hand von Kim seine eine festhielt. Aber beim Start, da hatte sie ihre Hand schon zurück zu sich genommen und war ok damit, dass sie in einem fahrenden und abhebenden Flugzeug war und dass das ihr nichts vorhatte zu tun. Dass Kim versuchte, sich auf das einzustellen, auf was sie sich eingelassen hatte, das mochte I., weil das Kim war, die sich überwinden konnte, für etwas, das Kim wollte. Dass das aber nicht grade dazu führte, dass sie an ihm kleben bleiben würde, wusste er dabei auch.

I. jetzt mit zwei Händen für sein Notizheft. Darin das Neuste, das er sich las:

– Das Nichtsagen gegenüber Amira, was wir vorhaben. Das Verlassen der Wohnung vom Vater. Das Treffen mit Kim und das Fahren zu ihr, aber nicht zu ihr nach Hause, weil dahin traute sie sich nicht mehr, und das Lastminutebuchen der arschteuren Tickets mit Geld, das Kim zusammengespart hatte. Das Kaufen, das klappte und Kims Angst revidierte – aber ein Gegenteil von Angst ist nunmal andre Angst. Das eine Mal Sex haben mit ihr in der ganzen Aufgeregtheit. Die Busfahrt mit Flix nach Berlin am nächsten Tag und da der Einstieg in den Flieger.

– Was Amira dazu sagen würde: Was aus den falschen Gründen machen kann gut ausgehn, aber aufs Gutausgehn arbeitet man dabei nicht grad hin. Dass am Ende immer ein gutes Ende ist, dass das ein Automatismus ist, darauf kannst du beim Pornhubsurfen hoffen, aber nicht im richtigen Leben.

– Was Vater sagen würde: Du machst Witze! Immer machst du Witze! Deine Mutter verlässt uns, und du machst Witze. Ich habe eine kubistische Phase, und du machst Witze. Ich habe eine impressionistische Phase, und du machst Witze. Ich habe eine abstrakte Krise – Witze. Ich mach Witze, du machst Witze. Du hast Pubertätsdepressionen und machst Witze. Jetzt gehst du in den Krieg, und das ist ein Witz für dich. Du kannst keine Langeweile, konntest du schon als Kind nicht. Wenn ich den Sonntag mit Malen zubrachte, dann warst du da und hast die Stille weggeningelt und bist rumgehampelt, weil du nicht sitzenbleiben konntest vor dem Fernseher oder vor dem Konsalik oder dem Etikett vom Klarlackeimer. Mit deinen Witzen kürzt du ab, was lang und schrecklich ist und sich am Ende erst auszahlt. Statt alles zu machen, um wo hinzukommen, kürzt du alles mit einer Pointe ab. Pfui! Ich spucke.

– Was der Dozent sagen würde: Es stimmt nicht, was Sie machen, aber dass Sie es machen, dafür hab ich Respekt. Ich glaube Lenin ja auch kein Wort, was er da mit seinem Internationalsozialismus machen wollte. Aber dass er ein Macher war, das kann ich ja nicht bestreiten. Und ich kann nicht bestreiten, dass Sie sich einen Platz suchen. Fein: einen Platz außerhalb des Hörsaals. Noch feiner: außerhalb Deutschlands! PS: Ich hab den Unterschied zwischen Elite und Avantgarde nie begreifen wollen. Tschüss!

– Was Mama sagen würde: Gehn ist kein Verbrechen, Bleiben ist eins, eins an sich selber. Die Größe von der Welt ist dafür da, dass man Strecke zwischen sich und denen machen kann, die man nicht bei sich will. Und sie ist dafür da, dass man wen findet, den man ganz nah bei sich will. Madrilenen können lieben gut.

Die Abendhitze in Sulaymaniyah, das runde Hangardach vom Flughafen da und die vielen fürstpücklereisversprechenden bunten Schilder in der Vorhalle. Kim versuchte derweil wen zu erreichen, dessen Nummer sie gekriegt hatte, der sie beide abholen sollte. Ging auch ran. Klappte.

Von ein paar gewechselten Dollars holte sich Kim an einem Stand ein Fladenbrot, das aus einem Tonofen kam und auf das sie Fleisch tun ließ. I. war vor Aufregung nur durstig und trank das Leitungswasser vom Klo vom Berliner Gate aus seiner Halbliterflasche Pepsi Vanille und aß eine alte Schokolade, die er im ersten Flieger gefunden hatte.

Der Abholer war ein ersteindrückend freundlicher, der Kim und I. direkt drückte zum Hallo. Einer, wo die tiefschwarzen Haare weg von der Stirn nach unten wanderten auf Nacken und Unterarme und man konnte dabei fast live zuschauen. Er hatte sein Hemd einstecken, aber oben weit offen, war größer wie Kim und kleiner wie I. und fuhr sie zum Schlafplatz hin.

Unterwegs Kim und I. Die bekamen was von der Stadt ab. Die Sonne stach tiefstehend am Rand seiner Sonnenbrille vorbei und zeigte, dass sie am Kahlsein der Landschaft Schuld war, aber I. sah auch schon die ersten Ruinen von Wohnhäusern, die von einem der Kriege zu dachlosen Wandgerippen zerstört worden wurden. Einem Krieg, der keiner der vielen jüngeren war, die letzten zehn, zwölf Golfkriege waren an Sulaymaniyah vorbeigegangen und die Stadt hatte länger nichts mehr abgekriegt, war seit ein paar Jahren nicht mehr abgekriegt worden, im Gegensatz zu den vielen Städten, die Irak und Syrien sonst so hatten.

Der Abholer stellte sich vor als Rohat. Mit einer Sprache, die aus vielen Sprachen war, hatte er zuerst was gefragt, und nach vielen falschen Antworten sagte Kim in ziemlich arg kargem Kurdisch und obwohl I. eigentlich nichts Richtiges gegessen hatte:

»Nein, danke! Wir haben schon was gehabt, das war lecker.«

Und zu I., dem sie in die Seite knuffte und auf eine Statue zeigte, an denen sie vorbeikam:

»Guck!«

Die Statue war auf den Kopf gestellt, der auf ein offnes Buch gestellt war. Rohat meinte, dass das die Bibliothek dahinter wär und die Statue ein Dichter, Ehmedê Xanî, der das Kurdische in Worten und als Nation in Umlauf um die heiße Sonne gebracht hatte, als Beweis wurde die die Mitte von der Fahne von Kurdistan. Xanî war also mit dem Kopf vorangegangen – zumindest verstand Kim das so und übersetzte für I., was sie so verstand. Ein Spiegelkabinett.

Unterwegs zählte I. nicht viel mehr Frauen mit als ohne Kopftuch und vier Auswärtstrikots vom FC Barcelona, eins davon angezogen von einem zufriedenen Kind im Kindesalter, die drei restlichen an einem Marktstand neben mehreren bunten Hochzeitskleidern angeboten. I. sah welche an einer Kreuzung Alkoholisches trinken und das sah so aus, wie er es von daheim kannte: offen, aber bissel beschämt, weil es so offen war. Hier aßen die Kinder auch Ramennudeln trocken gern und beim Rumalbern nach Schule. Die Werbeflächen waren hier größer, besonders die für Ledersofas, fand I.

Das Haus, wo sie hinkamen, war nicht versteckt etwa, nein. Direkt an der Straße. Dass es dahinter gleich mit kahlem Stein und Wüste weiterging, hatte I. schon auf der Fahrt durch die Stadt oft gesehen, manchmal war beim Vorbeifahren alles in Schatten getaucht von einer steilen Felswand, die an der vierspurigen Straße direkt dranstand. Sulaymaniyah hörte am Rand schnell auf, Sulaymaniyah zu sein, und wurde Land.

Kim und I. dachten zuerst, sie kommen in das auf aussehende Hotel, standen dann aber auf dem Balkon vom Haus daneben, das beim Reinkommen – I. kannte eigentlich nur Salz, Pfeffer, Zimt und vom Bruder Brennnesseln am Arm – heftig lecker nach seichten Gewürzen roch und auf dem Balkon die Abendluft angenehm nach gar nichts, höchstens einen Moment nach Kim.

Rohat schenkte Tee aus einem Samowar aus, so ein Ding, das I. eigentlich kennen sollte, aber er musste trotzdem nachfragen, und dann wurde es komisch, weil Rohat Kim beim Longsleaveausziehn inspizierte und dann noch komischer, weil er I.s Bizepse drückte. Nicht komischer, aber auch nicht weniger, auch die Antwort auf I.s Frage, warum das Rohat prüfen wollte: Weil manchen Grund, warum man herkommt, kann man am Körper ablesen. Der Googletranslator und Rohat sagten zusammen sowas wie:

»Wer Krieg spielt, hat den Bodybuilder-Bau. Wer die Bewegung will, ist oft sportlos und hat den Kopf auf und sein Herz an.«

Für I. war das neu, dass er zu denen gezählt gehört, die sich dran machten, die Welt auszubessern, obwohl er doch eigentlich der Ausbessererin nur hinterhergemacht hatte, ihr wegen. I. war einfach nur ein an was Intressierter, einer, der bei brillanten Solos der ist, der daneben den Bass gibt. Das zählt zu wenig für einen Politischen, da muss mehr und I. will ja mehr als nur nachrennen, ja.

Von Rohat den Plan für den nächsten Morgen und zwei Matratzen mit Decken bekommen und ihn dann bis in acht Stunden verabschiedet, lagen Kim und I. in einem Zimmer, mit flusig riechendem Teppich und ohne mehr Möblierung wie einem Röhrenfernseher neben, weil nicht auf dem Fernsehtischchen, wo eine Vase ohne Strauß. Ein Aquarium für Landleber.

Eine schlief schnell weg und einer dachte sich weg, zu Kim, wenn sie wach war und in Sexlaune, und Kims Hintern, wenn der keine Hosen anhatte. Dachte so, um ohne ein Geräusch zu machen, zu versuchen, zu wichsen, aber das gelang erst nach langem Versuchen und einem angefeuchteten Finger, mit dem er sich um seinen Anus rumfuhr wie um den Rand von einem Glas mit viel Nervenenden.

Nach der Erregung kam keine Befriedigung, nur Sperma. Flutsch. Stattdessen tat I. nach Saubermachen von sich so, als würde er heftig husten müssen, damit Kim wach wurde und er sich entschuldigen konnte, geweckt zu haben. Aber dann könnten sie ja reden, er wollte ja auch noch viel wissen und so weiter, man könnte ja raus auf den Balkon und in die ausgekühlte Nacht.

Kim war verschlafen, ging aber bei der Hoffnung, jemand, der will, aufzuklären, ziemlich schnell an und beide rückten die weißen Plastikstühle so gegenüber, dass Kim beim Rauchen auch ihren rechten Fuß über das Geländer halten konnte. Kim fff!te, wie sie den Rauch von ihrer Selbstgedrehten in ihre Lungen zutschte, und pfff!te beim Rausdrücken vom Rauch. Dann sagte sie Sachen, die I. eigentlich schon mittel kannte, sie aber gerne nochmal und nochmal von Kim gehört haben wollte wegen der hohen Auflösung:

»Kurdistan, das gibts in vielen Ländern und deshalb gibts das eben auch nicht. Kurden, die werden rumgeschubst seit Jahrzehnten und Jahrhunderten. In der Türkei steckt man unter ihren Häusern ihre Keller samt ihnen drin an, im Irak haben die Giftgas abgekriegt massenhaft und in Syrien die Staatsbürgerschaft abgenommen bekommen von Assad, dem Vater von Assad. Dann kam der IS, der schön vom Westen profitiert hat, weil die alles gefördert haben, was gegen Assad, den Sohn vom Assad, war und wenns bis Oberkante Unterkante im Jihad-Game steckte, also eben auch Schauer wie Al-Nusra. Die rasteten dann auch aus und dachten sich, ein Kalifat machen wär gut und alles killen, was da nicht reinpasst, auch: Schiiten, Jesiden, Christen, rauchende Omas ohne Kopftuch in allen Farben und Formen, und halt Kurden – um Köpfe kürzer. Alle in Gefahr, weggemacht zu werden. Die Kurden hatten ja schon länger auf ihr Unterdrücktsein mit Widerstand geantwortet und hatten die PKK und später die PYD und dann halt auch die YPG und die YPJ und wehrten sich, nicht nur mit viel Triolen aus Großbuchstaben, sondern mit viel Wehr.«

I. merkte, wie er Kims Haltung auf dem angegrauten Plastestuhl nachmachte und mit breiten Beinen fläzte. Kim weiter:

»Öhmja, was noch? Achso: Dann nutzten die halt, dass der Bürgerkrieg dazu geführt hatte, dass Nordsyrien auf sich gestellt werden musste, und so machten sie halt Rojava auf und verteidigten das mit viel, viel Bitterkeit gegen Daesch. Trotzdem ist noch nichts sicher, auch nicht, was die Amis hier machen und wie weit das Bündnis mit denen geht und auf welche kleine Volksgruppe die Peschmerga von Barzani als nächstes mit von Deutschland geschenkten G-36 zeigen wird und obs einfach nochmal die Jesiden sein werden und ob dann vorne auch Kugeln rausfallen nach der wahrgemachten Drohung.«

Zur Auflockerung des nächtlichen Monologs kams, als zwei für die Uhrzeit ziemlich Laute lachend zum Eingang vom Hotel gingen, das anscheinend doch zu war, und beim Rückwärtsüberqueren der Straße hielten sie an und machten beide einen Dab.

I. guckte ihren Armbewegungen hinterher, weil er es als Zeigen fehldeutete. Da in der Ferne, da stand (und leuchtete sich selbst aus) im Zentrum vom Stadtkern ein gigantisches Hochhaus wie ein hochkantenes Boot, das obendrauf ein UFO balancieren musste. Wieder auf Kim und Rojava konzentriert, meinte I.:

»Da sind wir ja richtiger und wichtiger wie gedacht.«

Kim:

»Aufjedistan!«

Kim nochmal, nach einer Pause, in der beide nur atmeten, was eigentlich nicht stimmte, weil I. im fehlenden Licht zählte, wie viele schöne Augenbrauen Kim hatte und dazu ansetzte, ihr einen Kuss anzubieten, der sagen sollte, dass er sie liebte, viel liebte, aber dann also Kim nochmal:

»Ich glaub, meinem Magen gehts bissel schlecht.«

*

Bis Rohat frühs kam in grünbraunem Hemd und mit ihm eine Tüte voll mit Frühstück, hörte I. zu, wie Kim im Bad Probleme hatte, sich beisammenzuhalten. Was sie I. damit sagte, war, dass er damit auch noch drankam. Denn I. hatte auch schon aus der Leitung getrunken, ein bissel auch, ums hinter sich zu haben und seine Verdauung ans Hiersein zu gewöhnen, weil irgendwann ja auch Front. Die war entfernt, meinten Rohat, Rohats Smartphone und der Googletranslator da drinne. Einige Stunden mit dem Auto und dann der illegale Grenzübertritt in der Nacht und durch den Tigris watend. Das ginge erst in ein paar Tagen, wenn der Mond weniger wär und nachts weniger Licht abgab.

Das Fladenbrot, was Rohat mit sich hatte, hieß Naan und ging gut zusammen mit einem Pfirsichaufstrich. Kim saß dabei, war nur am schön Krankaussehn und aß nichts. Stattdessen kam Fernsehen, da waren Musikvideos drin. Drin zu sehn, unter anderem, wie ein Traprapper eine Gruppe Senioren dazu brachte, von ihrem Kaffee aufzustehn und zu tanzen, und eine Pianistin, die genüsslich Trauben isst, während da ein Mensch hinter ihr ist und die Arme durch ihre Achseln schob und für sie spielt, und als kleines Fenster sah man eine in Laborkittel, die neben sich eine Tafel stehen hatte, wo mit Kreide und Arabisch Balladenform und Versmaß analysiert worden waren und am Ende wischte die alles weg und erklärte so simpel, dass es im Song um das Verhältnis von kurz, aber möglicherweise schön zu lebendem Körper und weit, aber möglicherweise schlecht zu denkendem Geist ging, dass selbst I. das verstand und sich vor Erkenntnis an Naankrümeln verschluckte. HUST! Röchel! Aha!

Dann wieder im Auto, einem Kia mit Decken als Sitzbezügen, auf dem Weg zum Treffen mit einer von der linken kurdischen Partei da. Neben einem Duftbäumchen, wo auch wirklich Duftbaum deutsch draufstand, hing am Rückspiegel ein rotgelbgrünes Armband, das Kim selbst in ihrem durchen Zustand als jesidisches Bazimbar benennen konnte und mit viel an Pausen erzählte, dass das Bändchen eigentlich ein religiöser Neujahrsschmuck wär, den aber mit den Farben politisch auflädt. Dritte Welt.

Kim hatte unbedingt gewollt, dass sie mitkommt, auch wenn ihr Gesicht die Farbe vom Bruchrand von Scherben von Keramik hatte. Die Fahrt wurde nur einmal unterbrochen, als ein Toyota-Jeep mit Taksi-Schild aufm Überrollbügel Lichthupe gab, was viel heißen konnte, Rohat aber richtig vermutete, dass da vorne wohl eine Papierekontrolle war, weswegen sich das auch so staute auf der Straße. Wenden ging nicht und war zu verdächtig, deswegen war Anhalten die Methode, um der zu entgehen, und Rohat ging schauen, ob und wie lange das Militär da noch rauszog und auch filzte und auch Dinar entgegennahm und dann nicht mehr filzte.

I. kümmerte sich erfolglos um die in der Hitze trotzdem in einer Decke und in ein Kopftuch eingemummelte Kim, indem er anbot, was er hatte, also Wasser, einen Kaugummi und einen kleinen Einakter, den er aus seinem Notizbuch mit verstellten Stimmen vorlas:

»Du: Hach! Ich: Schmacht! Du: Oha!? Ich: Jaha!! Du: Naja! Ich: Oja! Du: Oke! Ich: Juchhe!«

Kim:

»Haha. Witzig. Wenns ernst wär, wärs nicht witzig.«

I.:

»Wieso?«

Kim:

»Da, wo wir hingehen, da ist das nicht erlaubt, dass zwischen einem von der YPG und einer von der YPJ was läuft. Das wusstest du nicht?«

»Woher? Du hasts ja nicht gesagt.«

»Google ist freundlich, wenn man fragt, aber wie in der YPG/YPJ: ganz platonisch, versteht sich.«

I. stieg kurz aus aus dem Gespräch und dem Auto auch, dann aber schnell wieder ein, zumindest ins Auto, weil der Fußweg fast völlig zu war mit Menschen und deren Einkäufen und Kindern und deren Puppenwägelchen, da wollte er nicht verloren gehn beim Gehn in Gedanken. Überhaupt schauten schon viele, weil er deutsch fluchte mit bissel Türkisch und Polnisch und viel Englisch drin, was man halt so macht.

Also saß er neben Kim, während er sich klarmachte, dass das mit ihr was war, was grade unmöglich war. Sie und er würden hier ein halbes Jahr sein, und dann mal sehn, wie sehr Deutschland wohl Bock auf eine Bullenschubserin und einen Überschuldeten hatte.

Kim:

»Du hast grad nicht den Idiotenmove gemacht und mir was gestanden? Grad wo ich dehydriere zu ner Rosine?«

I.:

»Pff. Halloo? Neeeeijen.«

Kim:

»Dachte schon.«

Ken Merten, Jahrgang 1990, ist Autor und Journalist und lebt in Leipzig. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 17./18. Dezember 2022 die Kurzgeschichte »Sin embargo«.

Am 20. Februar 2024 stellt der Autor seinen Roman im Literaturforum im Brecht-Haus im Gespräch mit jW-Redakteur Felix Bartels vor. Livestream unter: youtube.com/watch?v=qthEcC8cSJQ

Ken Merten: Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist. XS-Verlag, Berlin 2024, 248 Seiten, 23 Euro

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