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Aus: Ausgabe vom 07.05.2024, Seite 7 / Ausland
Politisch verfolgt

Alt, krank und in der Türkei inhaftiert

Bis zum Tod: Kurdische Gefangene ohne medizinische Hilfe und Aussicht auf Entlassung
Von Hamdiye Çiftçi Öksüz
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Seltener Einblick: Privataufnahme von einem Gefängnistrakt

Die Gefängnisse in der Türkei sind zu Häusern des Todes geworden. In den letzten Jahren sind Dutzende von politischen Gefangenen in den Gefängnissen aufgrund schlechter Lebensbedingungen und fehlender medizinischer Behandlung gestorben. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins (IHD) gibt es derzeit 1.517 kranke Gefangene, von denen 651 schwer erkrankt sind. Im vergangenen Jahr starben mindestens 34 hinter Gittern, im Jahr zuvor waren es 22.

Der seit 29 Jahren inhaftierte kranke Häftling Halil Güneş, ein Schriftsteller und Dichter, kämpfte seit langem mit Lungen- und Knochenkrebs. Güneş war am 15. Dezember 2021 tot in seiner Zelle im Hochsicherheitsgefängnis in Diyarbakır aufgefunden worden. Abdülrezzak Şuyur starb einen Tag später an Lungenkrebs. Der 28jährige stand 14 Monate vor dem Ende seiner Haftstrafe, sein Antrag auf Entlassung wurde jedoch abgelehnt. Dabei hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits 2006 geurteilt, dass der türkische Staat in mehrfacher Hinsicht gegen Şuyurs Rechte verstoßen hatte. Abdulhalim Kırtay war 30 Jahre lang in verschiedenen Gefängnissen interniert, musste sich in dieser Zeit drei Leistenbruchoperationen unterziehen und litt unter anderem an Diabetes und Bluthochdruck. 51 Tage nach seiner Entlassung verstarb er am 12. Mai 2023. Cemal Tanhan wurde ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er am 27. Oktober 2023 in der geschlossenen Strafvollzugsanstalt Bolu F einen Schlaganfall erlitten hatte. Während seines Krankenhausaufenthalts erlitt er eine Lungenentzündung, und es wurde Krebs im vierten Stadium diagnostiziert. Tanhan starb am 4. Dezember.

Bei dem 70jährigen Şakir Turan wurde im Gefängnis Kehlkopfkrebs diagnostiziert, er nahm in vier Monaten 23 Kilogramm ab. Am 23. August 2023 erlag er seinem Leiden im Krankenhaus. Sein Sohn Abdurrahman Turan erklärte gegenüber jW: »Er wurde in einer feuchten Umgebung im Keller des Krankenhauses gehalten. Er konnte kaum sprechen, und der Ort, an dem er gehalten wurde, war sehr schlecht. Sechs bis sieben Gendarmen waren bei uns. Seine Füße waren eiskalt, ich wollte ihm Socken anziehen, aber sie ließen mich nicht. Mein Vater verabschiedete sich von uns allen, einem nach dem anderen. Er sagte uns: ›Passt auf euch auf, seid vereint. Mein Kopf ist erhoben, ich bin nicht zurückgewichen.‹«

Und Hunderte von kranken Gefangenen werden in den Gefängnissen weiter dem Tod überlassen. Makbule Özer, eine 83jährige Frau mit einer 53prozentigen Behinderung, wurde wegen »Unterstützung einer illegalen Organisation« verhaftet. Özer bleibt inhaftiert, da die gerichtsmedizinische Anstalt der Ansicht ist, dass sie »im Gefängnis bleiben kann«. Darauf kann ihre Tochter Naime Özer nur mit Unverständnis reagieren: »Meine Mutter ist alt, behindert und hat viele Krankheiten. Wie kann ein Mensch in diesem Alter im Gefängnis bleiben? Der Staat hat sogar Angst vor unseren alten, kranken Menschen. Sie kann sowieso nicht mehr gehen, sie kann kaum noch atmen.«

Auch der 85jährige Abdulalim Kaya wird im Gefängnis festgehalten, obwohl er zu 93 Prozent behindert, schwer krank und ohne Bewusstsein ist. »Sein Zustand ist sehr kritisch. Er wird sterben«, befürchtete sein Sohn İsmail Kaya gegenüber jW. Sein Vater wurde wegen einer Presseerklärung festgenommen, an der er 2008 beteiligt war, und zu fünf Jahren Haft verurteilt, davon 60 Tage lang Einzelhaft. »Wir wollen nicht, dass er im Gefängnis stirbt, wo er bewusstlos gehalten wird. Wir fordern die Regierung auf, kranke und ältere Gefangene so schnell wie möglich freizulassen.«

Die an Diabetes leidende Hanife Arslan wurde erstmals 2017 verhaftet und wegen »Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation« zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Nach neun Monaten wurde sie zunächst entlassen, nach Bestätigung des Urteils jedoch 2022 erneut verhaftet. Sie befindet sich seit mehr als 21 Monaten im Gefängnis. Ihre Tochter Reyhan Ören fordert, dass sie so bald wie möglich entlassen werden solle, um sich außerhalb des Gefängnisses behandeln lassen zu können: »Aufgrund dieser Krankheit haben ihre Venen ihre Elastizität verloren. Außerdem leidet sie an Bluthochdruck. Sie wurde wiederholt wegen ihres Blutdrucks und ihrer Herzschmerzen ins Krankenhaus gebracht. Aber der Krankenhausarzt hat sich das Problem meiner Mutter nicht ein einziges Mal angehört und sie ohne Lösung und Behandlung im Gefängnis gelassen.«

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