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Aus: Ausgabe vom 26.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Repression gegen kurdische Bewegung

Gehilfen Ankaras

Parallel zum Einmarsch der türkischen Armee in die Kurdistan-Region des Irak nimmt der Druck auf kurdische Medien und Aktivisten in Europa zu
Von Tim Krüger
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Kurdischen Journalisten und Kulturschaffende am Dienstag vor den durchsuchten Fernsehstudios in Denderleeuw

Der 23. April wird bei kurdischen Medienschaffenden nicht so schnell in Vergessenheit geraten. Während die türkische Regierung ihren Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung mit einer erneuten völkerrechtswidrigen Invasion in der Kurdistan-Region des Irak auf eine neue Stufe hebt, stürmten belgische und französische Polizeispezialeinheiten kurdische Fernsehsender und einen Kulturverein in EU-Europa. Zeitgleich führte die türkische Polizei in Urfa, Ankara und Istanbul einen koordinierten Schlag gegen die freie Presse und neun Journalisten der oppositionellen Nachrichtenagentur Mezopotamya sowie der Tagesszeitung Yeni Yaşam verhaften.

Die belgische Bundespolizei war mit einem Aufgebot von mehr als 200 Beamten und schwerem Gerät inklusive eines vorsorglich mitgeführten Wasserwerfers angerückt, um die Studios und Räumlichkeiten der beiden kurdischen Medienhäuser in Denderleeuw zu durchsuchen. Ohne einen Durchsuchungsbeschluss auszuhändigen, verschaffte sich die Polizei eigenmächtig unter Zuhilfenahme eines Rammbocks Zugang zu den Studioräumlichkeiten. Den Anwälten der beiden Kanäle wurde für die Dauer der Durchsuchung jeglicher Zugang zum Gebäude verwehrt.

Die Bilder und Videos, welche Mitarbeiter und Moderatoren der beiden Satellitensender nach dem Ende der vierstündigen Maßnahme in den sozialen Medien verbreiteten, zeigen ein Bild des Chaos und der Zerstörung. In einer Presseerklärung sprachen die Mitarbeiter von einer bewussten »Sabotage des Sendebetriebs« und einem »Angriff auf die freien kurdischen Medien«. Für sie bestehe kein Zweifel, dass die Durchsuchungen Ergebnis »der schmutzigen Beziehungen mit dem faschistischen Erdoğan-Regime« seien. Die beiden Kanäle, die in den unterschiedlichen Dialekten der kurdischen Sprache und auf türkisch senden, besitzen sowohl für die kurdische Gesellschaft im Mittleren Osten und die Diaspora, aber auch für die linke Opposition der Türkei eine herausragende Bedeutung. So sind Stêrk TV und Medya Haber die einzigen Kanäle, die aktuell über das Kriegsgeschehen in Kurdistan und die dabei begangenen Kriegsverbrechen berichten.

Besonders brisant ist dabei vor allem das Timing der Operationen. Die Repressionswelle gegen kurdische Medienschaffende kam nur einen Tag nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Bagdad mit der irakischen Zentralregierung über eine Ausweitung des Krieges gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK im Nordirak verhandelt hatte. Die türkische Armee hatte am Wochenende einen neuen grenzüberschreitenden Vorstoß in die Bergregion Metîna unternommen und liefert sich seitdem heftige Auseinandersetzungen mit den Guerillaverbänden der PKK. Das Ziel der türkischen Invasion ist die Errichtung einer permanenten »Sicherheitszone«, also die langfristige Besetzung irakischen Territoriums. Im Zuge von Operationen der vergangenen Jahre hat die türkische Armee bereits 64 Militärstützpunkte in der Region errichtet und hält 86 Prozent des Grenzstreifens besetzt.

Vor diesem Hintergrund sprach der Dachverband der kurdischen Kulturvereine in Deutschland Kon-Med in bezug auf die Durchsuchungen von »eklatanten Zensur- und Einschüchterungsmaßnahmen« und sieht einen Zusammenhang mit dem Besuch des türkischen Außenministers Hakan ­Fidan im März in Belgien. Kurdische Aktivisten in Europa vermuten, dass die Durchsuchungen und Festnahmen im Zusammenhang mit Verhandlungen zwischen den europäischen Staaten und der türkischen Regierung stehen könnten. Ende März hatte die französische Polizei drei junge kurdische politische Geflüchtete an die Türkei ausgeliefert, wo sie umgehend inhaftiert wurden. In der BRD wurden in den vergangenen Wochen gleich vier kurdische Aktivisten unter Terrorismusanklage zu mehrjährigen Haftstrafen wegen vermeintlicher PKK-Kadertätigkeit verurteilt.

Zudem wurde die EU-Kommission mit der Aushandlung eines neuen »Migrationsabkommens« mit der Türkei beauftragt. Und am 17. April erklärten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ihr »strategisches Interesse« an »kooperativen und für beide Seiten nutzbringenden Beziehungen zur Türkei«. Allem Anschein nach sind die europäischen Demokratien bei aller »wertegeleiteter Außenpolitik« weiterhin bereit, die Grundrechte und das Schicksal des kurdischen Volkes für dieses »strategische Interesse« zu opfern.

Hintergrund: Stellungnahme

Zu den Angriffen auf kurdische Medien erklärte die Dem-Partei, Nachfolgerin der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Türkei, am Dienstag:

»Um Mitternacht und am Morgen wurden gleichzeitig Operationen und Angriffe gegen die freie Presse in Istanbul, Ankara und Belgien durchgeführt. In Ankara und Istanbul wurden sieben Journalisten, die für die Agentur Mezopotamya und die Zeitung Yeni Yaşam arbeiten, festgenommen. Die belgische Polizei führte auch bei Medya Haber und Stêrk TV ungerechtfertigte Razzien durch. Bei der stundenlangen Razzia wurden alle offiziellen und legalen Dokumente beschlagnahmt. (…)

Seit Jahren ist jeder Angriff und jede Operation gegen die kurdische Presse ein Hinweis auf die Vorbereitungen für einen größeren und umfassenderen Angriff gegen das kurdische Volk. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass die Bemühungen, die Medien als Stimme des kurdischen Volkes zum Schweigen zu bringen, darauf abzielen, die Angriffe (…) unsichtbar zu machen.

Am 21. Dezember 2011, nur sieben Tage nach der umfassendsten Festnahmewelle der Geschichte gegen die kurdische Presse, haben Kampfjets ein Massaker in Roboskî verübt. Es ist kein Zufall, dass Operationen gegen die kurdische Presse im In- und Ausland zu einer Zeit durchgeführt werden, in der die AKP/MHP-Regierung einen umfassenden Angriff auf das kurdische Volk plant und Erdoğan mit der irakischen Regierung verhandelt. (…)

Es ist beschämend, dass Belgien die Menschenrechte, die Demokratie und die Pressefreiheit seinen Verhandlungen mit der Türkei opfert. Leider haben die europäischen Länder wieder einmal bewiesen, dass sie für ihre eigenen Interessen alle möglichen humanitären Werte an unterdrückerische autoritäre Regierungen verkaufen und sich zu deren Unterstützern machen können.«

Übersetzung: Tim Krüger

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  • Leserbrief von Jan S. aus Schwerin (25. April 2024 um 20:50 Uhr)
    Was treibt die Entscheidungsträger an? Kurden kriminalisieren, Gaza-Opfer bagatellisieren ... man schafft das perfekte Klima für eine Stellvertreter-AKP in Deutschland. Danke liebes Establishment.

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