4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 23.04.2024, Seite 2 / Feuilleton
Braunau am Inn

»Nur die Fassade soll verändert werden«

Österreich: Dokumentarfilm über Geburtshaus von Adolf Hitler mit Preis ausgezeichnet. Ein Gespräch mit Günter Schwaiger
Interview: Barbara Eder
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In Adolf Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn soll bald die Polizei einziehen

Ihr Anfang April beim Filmfestival Diagonale ausgezeichneter Dokumentarfilm »Wer hat Angst vor Braunau?« thematisiert den Umgang mit einem Haus, das unter Neonazis Kultstatus genießt. Wie schätzen Sie das Problem aktuell ein?

»Wer hat Angst vor Braunau?« ist der erste Film, den ich nur in Österreich gedreht habe. Ich bin unweit von Braunau aufgewachsen und für mich war das immer ein Ort, wo man nicht hinwill: Ein Ort für Nazis. Meine Erfahrung nach fünf Jahren intensiver Arbeit ist, dass diese Zuschreibung eigentlich nicht stimmt. Braunau ist eine der wenigen österreichischen Kleinstädte, die sich aktiv mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzt – gerade weil Hitler dort geboren wurde. Man projiziert auf Braunau, was man anderswo nicht sehen will – nach dem Motto: Dort ist Hitler her, aber hier sind wir sauber.

Ursprünglich wollten Sie den Einzug des Vereins »Lebenshilfe« in die Räumlichkeiten des Hauses filmisch begleiten.

Das war der Plan: Menschen mit Beeinträchtigung beziehen Hitlers Geburtshaus. Eine symbolische Geste, die einen angstlosen Umgang mit dem Haus gezeigt hätte, den es ja schon gegeben hatte. Die Sozialeinrichtung war bis 2011 schon in dem Gebäude gewesen, dann aber ausgezogen, weil es nicht barrierefrei war und die Besitzerin nicht umbauen wollte.

Was ist seither passiert?

Nach einem Streit zwischen Besitzerin und Verwaltung wurde das Haus 2016 von der Republik Österreich enteignet. Eine vom Bundesministerium für Inneres einberufene Kommission lehnte eine museale Aufarbeitung ab und empfahl statt dessen eine soziale oder administrative Lösung. Die soziale Lösung lag auf der Hand und galt als sicher. Im November 2019 entschied sich das Innenministerium jedoch völlig überraschend gegen die soziale Nutzung und für eine Polizeistation.

Im Abspann zeigen Sie die Liste der dafür verantwortlichen österreichischen Kanzler und Innenminister.

Begonnen hat die Debatte um das Haus und die Enteignung unter ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka. Unter dem nachfolgenden Innenminister Herbert Kickl, FPÖ, ist die Regierung auseinandergebrochen. Die Entscheidung gegen eine soziale und für eine administrative Lösung ist während der Übergangsregierung Bierlein unter Innenminister Peschorn entstanden. Über Nacht hat eine wohl kleine Gruppe im Innenministerium dann entschieden, dass die Polizei in das Haus kommt. Wer diese Idee geboren hat, weiß man nicht, das Prozedere blieb völlig intransparent.

Ihren Recherchen zufolge entspricht diese Nachnutzung der Intention Hitlers.

Nach einem vom Historiker Florian Kotanko gefundenen Zeitungsdokument von 1938 kongruiert die administrative Nutzung mit Hitlers Wunsch, im Haus Kanzleien der Kreisleitung einzurichten. Beschlossen hat das Innenministerium zudem eine sogenannte »Neutralisierung« des Hauses – mit dem Argument, dass es dann nicht zur Pilgerstätte für Neonazis werden könne. Es soll in einen Zustand aus dem 18. Jahrhundert zurückversetzt werden. Dies ist eine typisch österreichische Absicht: Nicht das Dahinter, sondern nur die Fassade verändern. Nicht die Geschichte aufarbeiten, sondern sie ungeschehen machen. Der Umbau hätte 2022 fertig sein sollen, zur österreichischen Filmpremiere 2023 hatte er noch nicht begonnen.

Welche Alternativen wären möglich gewesen?

Das Wichtigste wäre eine Auseinandersetzung mit den Menschen vor Ort gewesen. In Braunau wäre die Entscheidung wahrscheinlich zugunsten des Verbleibs der »Lebenshilfe« ausgegangen. Möglich wäre auch eine Gedenkstätte gewesen, die sich mit der Täter– und Mitläufergeschichte auseinandersetzt. Österreich hat viel Nachholbedarf in bezug auf deren Aufarbeitung – hierzulande hat es nach 1955 circa 1.000 Verfahren gegen Naziverbrecher gegeben und nur 20 Verurteilungen. Dieses Haus ist nicht irgendein Haus, es hat enorme Symbolkraft. Der Umgang damit verweist auf die Unfähigkeit, sich in Österreich auf offene Weise mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Anstatt Türen zu öffnen und einen anderen Umgang zu finden, schließt man sie wieder.

Günter Schwaiger ist Filmemacher und lebt zwischen Madrid und Wien

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