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Aus: Ausgabe vom 28.03.2024, Seite 2 / Ausland
Attacken auf Kurden

»Dieser Gewaltakt war ein Lynchangriff«

Belgien: Türkische Faschisten jagen Kurden nach Neujahrsfeier. Mehrere Verletzte. Ein Gespräch mit Roza Jiyan
Interview: Gitta Düperthal
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Demonstration am Montag in Brüssel gegen die antikurdischen Angriffe durch türkische Nationalisten

Im Anschluss an eine Newroz-Feier am Sonntag jagten Hunderte türkische Faschisten der »Grauen Wölfe« Kurdinnen und Kurden in der belgischen Provinz Limburg. Wie kam es dazu?

Diese Gewaltakte gegen kurdische Zivilistinnen und Zivilisten anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz waren ein Lynchangriff. Die kurdische Flagge am Auto von Familien als Symbol reichte aus, dass die Angreifer die gesamte türkische Nachbarschaft mobilisierten, um sie herunterzureißen und die Menschen zu verprügeln. Nach unserer Kenntnis befinden sich noch sechs Verletzte im Krankenhaus. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass der Mob Macheten mit sich trug, die eingesetzt wurden. Es gab einen Versuch, ein Haus in Brand zu setzen, in das sich eine kurdische Familie mit ihren Kindern zurückgezogen hatte. Sie hätte darin verbrennen können. Diese Familie ist aus dem vom türkischen Militär und dschihadistischen Söldnertruppen besetzten Afrin in Nordsyrien nach Deutschland geflüchtet. 2018 wurde dort eine halbe Million Menschen vertrieben.

Wie kommt es, dass die Polizei zunächst untätig blieb und erst eingriff, nachdem kurdische Nachbarinnen und Nachbarn zu Hilfe geeilt waren?

Möglicherweise war die Polizei zunächst mit dem organisierten Angriff überfordert, zumal Attacken offenbar abgesprochen und gleichzeitig an verschiedenen Orten durchgeführt wurden. Für die kurdische Community wurde klar: Nur der Zusammenhalt untereinander kann Schutz bieten.

In Belgien gilt die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, nach Urteilen des obersten Gerichts nicht wie in Deutschland als »terroristisch«, sondern als legitime Befreiungsbewegung. Wie konnte es dort zu den Gewaltexzessen kommen?

Vom türkischen Regime unterwanderte Netzwerke in Europa sorgen dafür, dass Kurdinnen und Kurden nicht nur innerhalb der eigenen Staatsgrenzen verfolgt werden. Bei den Angriffen waren nicht nur »Ülkücü« (»Idealisten«, Eigenbezeichnung der »Grauen Wölfe«, jW) aktiv, sondern auch andere türkische Bürgerinnen und Bürger. Hass, Nationalismus und Rassismus gegen kurdische und andere Minderheiten sind in der türkischen Bevölkerung tief verankert.

Der Dachverband kurdischer Vereine in Europa, KCDK-E, geht von einem geplanten Angriff unter Federführung türkischer Konsulate aus.

Das ist nicht bestätigt. Wir müssen aber den Einfluss des türkischen Geheimdienstes mit tausenden Informantinnen und Informanten hervorheben. Obendrein rechtfertigte das türkische Außenministerium die Attacken in Belgien. Es stellte die Ausschreitungen so dar, als hätten kurdische Aktivistinnen und Aktivisten damit begonnen. Man verweist auf Terrorismusvorwürfe, dass es sich um vermeintliche Anhängerinnen und Anhänger der PKK handele, verdammt sie für das Tragen kurdischer Symbole. Alles, um selbst die versuchte Brandstiftung zu legitimieren.

Was bezweckt die türkische Regierung damit?

In jedem diplomatischen Gespräch mit europäischen Politikerinnen und Politikern drängt Präsident Recep Tayyip Erdoğan darauf, die Rechte der im Exil lebenden Kurdinnen und Kurden einzuschränken. Er versucht, Einfluss zu nehmen, um die kurdische Bewegung in Europa und global auszuradieren. Vor türkischer Repression sind wir Kurdinnen und Kurden nirgends sicher. Um seine faschistische Agenda auch hier zu verbreiten, versucht er für Spannungen und Gewalt zu sorgen. Aus Beiträgen der »Grauen Wölfe« auf X wurde bekannt, dass ein weiterer Angriff in Belgien bereits am Sonnabend drohen könnte.

Kurdinnen und Kurden demonstrierten am Montag vorm EU-Parlament in Brüssel – was forderten sie?

Die »Grauen Wölfe« europaweit zu verbieten und endlich anzuerkennen, wie eng diese mit der Koalition von AKP und MHP in der Türkei verknüpft sind. Mit 11.000 Anhängern ist die Bewegung in der BRD eine der größten extrem rechten Strömungen. Durch die deutsche Kriminalisierungspolitik seit den 90er Jahren in bezug auf die PKK besteht hier ein günstiges Klima für sie, sich zu organisieren.

Roza Jiyan ist Mitarbeiterin des kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad

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