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Aus: Ausgabe vom 28.03.2024, Seite 7 / Ausland
Russland

Hintermänner gesucht

Anschlag in Moskau: Spekulationen um westliche und ukrainische Drahtzieher
Von Reinhard Lauterbach
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Wer gab den Auftrag? Das Veranstaltungszentrum Crocus City Hall in Trümmern (Krasnogorsk, 26.3.2024)

Der Ton der russischen Erklärungen zur mutmaßlich ukrainischen Spur beim Anschlag auf die Konzerthalle »Crocus City Hall« bei Moskau am vergangenen Freitag kommt etwas gemäßigter daher. Während der Chef des Nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, nach wie vor eine ukrainische Urheberschaft an dem Anschlag als Tatsache betrachtet, sagte später Alexander Bortnikow, Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, es »spreche vieles« für eine solche Vermutung. Der Auftraggeber des Anschlags sei noch nicht identifiziert. Russland verstehe jedoch, wer die Angriffe organisiert habe, so Bortnikow. Das hört sich eher wie ein Tribut an eine politische Vorgabe an. Wladimir Putin hatte am Montag abend erklärt, unmittelbar sei der Anschlag wohl von der dschihadistischen Gruppe »Islamischer Staat« (IS) verübt worden, aber Russland nehme an, dass er mächtigere Hintermänner gehabt habe. Genannt werden dabei insbesondere die Geheimdienste der USA und Großbritanniens, weil diese den IS seinerzeit aufgebaut hätten. Dass wiederum die CIA bei der Neuaufstellung des ukrainischen Geheimdienstes nach 2014 maßgeblich beteiligt waren, geht aus einer umfangreichen Berichterstattung führender US-Medien in den vergangenen Monaten hervor.

Wie das Moskauer Wirtschaftsblatt Kommersant am Mittwoch schrieb, haben die fortdauernden Vernehmungen von Personen, die als Mittäter der vier am Wochenende ergriffenen mutmaßlichen Terroristen verdächtigt werden, »wenig Neues erbracht«. In Untersuchungshaft kam unter anderem der Mann, der ihnen Anfang März eine Wohnung vermietet hatte, obwohl er in der Vernehmung sagte, nichts von den Anschlagsplänen seiner Mieter gewusst zu haben. Der ebenfalls tadschikischstämmige Verkäufer des Tatfahrzeuges jedoch soll gestanden haben, von den Absichten der Käufer gewusst zu haben. In diesem Zusammenhang gewinnt die Erklärung der russischen Menschenrechtsorganisation »Komanda Protiw Pytok« (Antifolterteam) an Gewicht, die davor warnte, unter Folter erzielten Geständnissen zuviel Glauben zu schenken. Filmaufnahmen von der Vorführung der Hauptverdächtigen vor Gericht Anfang der Woche hatten wenig Zweifel daran gelassen, dass sie im Zuge der Verhöre wahrscheinlich schwer misshandelt worden waren.

Für die Möglichkeit von Hintermännern außerhalb des IS-Milieus sprechen im Moment eher indirekte Hinweise. So meldete sich laut Kommersant ein 14jähriger Internetnutzer aus St. Petersburg bei der Polizei, dem über seinen Telegram-Account eine deutlich höhere Summe als diejenige, die den Attentätern vom 22. März nach deren Geständnissen geboten wurde, vorgeschlagen worden sei, wenn er »eine Bombe abhole und sie an einer noch zu nennenden Stelle wieder ablege«. Das könnte – und soll vermutlich – die Vermutung stützen, dass der Anschlag vom letzten Freitag aus Sicht dieser Hintermänner sozusagen ein »Versuchsballon« gewesen sei. Andererseits lässt die Offenheit, mit der nach Angaben der russischen Polizei in der als Jobangebot daherkommenden Anfrage über den Transport einer »Bombe« – und nicht etwa eines »Päckchens« – gesprochen worden sein soll, auch die Vermutung zu, dass es sich hier um eine Provokation gehandelt haben könnte.

Unterdessen sind die russischen Behörden nervös: Einerseits sind sie erkennbar bemüht, dem Aufkommen einer generell muslimfeindlichen Stimmung im Land vorzubeugen. So wurde groß herausgestellt, dass ein 15jähriger Schüler namens Islam Schalilow, der am Abend des Anschlags in der Garderobe der »Crocus City Hall« gearbeitet hatte, sich Verdienste um die Evakuierung von Zuschauern aus dem verqualmten Gebäude erworben habe. Er und einige andere Schüler wurden deshalb sogar in der Staatsduma empfangen. Andererseits nahm die Polizei im Bezirk Lipezk Ermittlungen wegen »Billigung von Gewalttaten« gegen eine Frau auf, die in sozialen Netzwerken darüber geschimpft hatte, dass der Regierung »die Angriffe auf Belgorod und das Schicksal meines an der Front kämpfenden Sohnes« völlig gleichgültig seien.

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