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Aus: Ausgabe vom 02.03.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Einsame Stimme

Von Arnold Schölzel
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Rüdiger Lüdeking arbeitete von 1980 bis 2018 im Auswärtigen Amt vor allem auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle. Am Freitag veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung (SZ) unter dem Titel »Weiterkommen« einen Kommentar, in dem er die gegenwärtige Russland-Politik kritisiert.

Lüdeking sieht in den Äußerungen Emmanuel Macrons zur möglichen Entsendung von Soldaten und »TAURUS«-Marschflugkörpern in der Bundesrepublik »Eskalationsrisiken«. Politiker und Experten, die »unverändert auf die militärische Karte« setzten und meinten, »dass Russland zu verlieren lernen müsse«, scheinen aus seiner Sicht den »Sinn für die Realitäten und das jetzt politisch Gebotene verloren zu haben.« Die militärische Lage in der Ukraine werde von den »größeren personellen und materiellen Ressourcen« Russlands bestimmt. Allerdings bestehe »keine akute Gefahr eines Angriffs auf NATO-Staaten«. Die Gründe: »Schwäche der russischen Streitkräfte, ihre Schwierigkeiten zur Führung eines modernen Gefechts der verbundenen Waffen, ihre massiven Verluste sowie ihre Motivations- und Führungsmängel«. Der Autor ist aber durchaus für deutsche Aufrüstung und plädiert: »Europa sollte kein willfähriger Juniorpartner von wenig verlässlichen USA unter einem abermaligen Präsidenten Trump sein.«

Neben solchen materiellen Tatsachen ist für Lüdeking aber etwas anderes zentral: »Es müssen endlich die diplomatischen Möglichkeiten der Beendigung des Kriegs oder der Erreichung eines abgesicherten Waffenstillstands ausgelotet und in Angriff genommen werden.« Das setze voraus, »dass – trotz des unentschuldbaren russischen Angriffskriegs – die NATO ihre Mitverantwortung für die heutige Lage« anerkenne. Spätestens seit Amtsantritt von US-Präsident George W. Bush 2001 verfolge sie mit ihrer konsequenten Osterweiterung sowie auch der Aufkündigung zentraler Rüstungskontrollübereinkünfte eine Sicherheitspolitik, die den Interessen Russlands widerspricht.

Lüdeking erwähnt nicht die einseitige Aufkündigung des 1972 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossenen Vertrags über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM) durch Washington im Jahr 2002. Dem ABM-Vertrag lag die Überlegung zugrunde, kein Land werde einen atomaren Erstschlag führen, wenn es sich gegen den Zweitschlag des angegriffenen Landes nicht ausreichend schützen könne. Der Rückzug vom ABM-Vertrag hatte insofern nur einen Sinn: die Erstschlagfähigkeit der USA gegenüber Russland wiederherzustellen. Das war ein Wendepunkt in den Beziehungen. Heute sind in Rumänien und Polen US-Systeme aufgestellt, von denen aus Russland mit landgestützten Mittelstreckenraketen angegriffen werden kann.

Lüdeking nennt eine zweite rote Linie, die für Moskau 2008 vom Westen überschritten worden sei: Als der Ukraine und Georgien die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde. Dem SZ-Autor geht es aber vor allem um das Hier und Heute. Er hält fest: »Der politische Gesprächsfaden wie das Verständnis für notwendige Kompromisse sind verlorengegangen.« Diesem Offenbarungseid westlicher Politik lässt Lüdeking ein Zitat des früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher folgen, der zur Krim-»Annexion« 2014 gemeint habe: »Wir sind an einem Punkt angekommen, wo ein offenes Wort unter wenigen erforderlich ist, um herauszufinden, wie wir nicht zu einem Kräfteverschleiß kommen im Gegeneinander, sondern wie wir weiterkommen.« Lüdeking empfiehlt dies statt Durchhalteparolen: »Emotionaler Furor und bellizistisch daherkommendes Maulheldentum helfen nicht weiter.« Sie erhöhten vielmehr die Kriegsgefahren für die europäischen NATO-Staaten.

In deutschen Redaktionen herrscht allerdings Kriegsrausch. Lüdeking ist auch in der SZ eine einsame Stimme.

Der Rückzug vom ABM-Vertrag hatte nur einen Sinn: die Erstschlagfähigkeit der USA gegenüber Russland wiederherzustellen. Das war ein Wendepunkt in den Beziehungen.

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