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Aus: Ausgabe vom 15.02.2024, Seite 12 / Thema
Kurdische Befreiungsbewegung

Im Knast seit 25 Jahren

Nach langer Irrfahrt entführt. Am 15. Februar 1999 wurde der PKK-Anführer Abdullah Öcalan in Nairobi festgenommen. Er ist bis heute in der Türkei inhaftiert
Von Tim Krüger
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Große Solidaritätsbewegung für die Freilassung von Öcalan, Frankfurt am Main, 22. März 2003

Als in der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1999 eine Eil­meldung über die Bildschirme des kurdischen Exilfernsehsenders MED TV flackert, bangen und empören sich Millionen von Kurdinnen und Kurden weltweit. Abdullah Öcalan, Gründer und Generalsekretär der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist in der kenianischen Hauptstadt Nairobi festgenommen worden. Sein Aufenthaltsort sei unbekannt, heißt es in der kurzen Meldung. Noch bevor weitere Informationen über das Schicksal Öcalans an die Öffentlichkeit dringen, ahnen die meisten schon, was diese Nachricht zu bedeuten hat. Um 3:30 Uhr landet ein Flugzeug vom Typ Falcon 900 B am Flughafen in Istanbul. An Bord der Maschine ein Team des türkischen Nachrichtendienstes MIT und der verschleppte Abdullah Öcalan.

Für den Großteil der kurdischen Gesellschaft gilt der 15. Februar seitdem als »Roja Reş« als »schwarzer Tag«. Dieses Datum markiert den Abschluss eines »internationalen Komplotts«, wie es alsbald innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung heißen wird. Der Begriff beschreibt vor allem die 130tägige Odyssee Abdullah Öcalans, die am 9. Oktober 1998 in Syrien begann und die ihn über Athen, Moskau, Rom und Amsterdam bis nach Nairobi führen sollte. Damit ist auch darauf hingewiesen, dass es sich bei der völkerrechtswidrigen Entführung und Festnahme Öcalans nicht um einen Alleingang des türkischen Nachrichtendienstes handelte, sondern vielmehr um das Ergebnis einer geheimen Zusammenarbeit diverser Staaten. So sollen nach Darstellungen der PKK vor allem der israelische Geheimdienst Mossad und die CIA an der Operation beteiligt gewesen sein.

Radikalisierung

Abdullah Öcalan wurde am 4. April 1949 in Amara (tr: Ömerli), einem Dorf in der türkischen Provinz Şanlıurfa im nördlichen Teil Kurdistans geboren. Er wuchs in ziemlich bescheidenen Verhältnissen auf. Die Familie konnte mit ihrem spärlichen Landbesitz gerade einmal den täglichen Unterhalt erwirtschaften. Folgt man Öcalans autobiografischen Erzählungen, so waren es bereits Ereignisse seiner frühesten Kindheit, die seinen Weg der politischen Radikalisierung ebnen sollten. So berichtet er davon, wie er an seinem ersten Schultag zum ersten Mal einem türkischen Lehrer gegenüberstand. Der junge Öcalan verstand kein Wort von dem, was der Lehrer ihm erzählen wollte. Der Bauernjunge war des Türkischen nicht mächtig. In der Familie und im Dorf sprach man die im Norden Kurdistans geläufige Kurmancî-Sprache. Als der junge Öcalan Prügel für die Nutzung der eigenen Muttersprache bezog, begann er zu verstehen, dass hier ein Problem vorlag. Was er erlebte, ist in großen Teilen auch heute noch Realität Zehntausender kurdischer Kinder, die in türkischen Bildungseinrichtungen die Schulbank drücken.

Öcalan beschreibt die ersten Begegnungen mit dem türkischen System der Verleugnung und Assimilation als Schlüsselereignisse in seinem Leben. Trotz seiner inneren Ablehnung lernt er in kurzer Zeit ein passables Türkisch und wird zu einem der besten Schüler seines Jahrgangs. Damit steht ihm der Weg zu einer weiterführenden Schulbildung offen, und als erster seiner Familie besucht er Gymnasium und Universität. Dort, an der Hochschule, kommt Öcalan Ende der 1960er Jahre zum ersten Mal mit sozialistischer Theorie in Berührung. In dieser Zeit beginnt er sich der revolutionären Bewegung der Türkei zuzuwenden. Sie erfährt nach dem Militärputsch vom 12. März 1971 einen schweren Rückschlag, zahlreiche Gruppen werden zerschlagen, wichtige Führungsfiguren hingerichtet oder inhaftiert. Viele suchen Zuflucht im Exil. Öcalan wird im April 1972 von der Militärjunta wegen einer Protestaktion verhaftet und inhaftiert. Im berüchtigten Mamak Gefängnis nahe der türkischen Hauptstadt Ankara muss er Zeuge der Hinrichtung führender Köpfe der revolutionären Bewegung der Türkei, unter anderem von Deniz Gezmiş und dessen Freunden werden. War Öcalan bis dahin bloß Sympathisant einzelner politischer Gruppen, reift im Gefängnis der Entschluss, Berufsrevolutionär zu werden.

Als er im Herbst 1972 im Rahmen einer Generalamnestie aus der Haft entlassen wird, gelingt es ihm rasch, eine kleine Gruppe um sich zu scharen, die sich aus türkischen, lasischen und kurdischen Studierenden zusammensetzt und die sich das Ziel setzt, den Zerfall der türkischen revolutionären Linken aufzuhalten und eine neue starke und einheitliche Organisation zu schaffen. Abdullah Öcalan erweist sich schnell als das Gehirn der noch namenlosen Gruppe, wodurch sich für ihre Mitglieder die rasch verbreitete Fremdbezeichnung »Apocular«, also Apoisten, von der Kurzform von Abdullah, ergibt. Was zuerst abwertend gemeint war, sollte bald schon als Selbstbezeichnung übernommen werden.

Öcalan war nach umfassendem Studium der Geschichte Kurdistans und der Türkei sowie der nationalen Befreiungskämpfe der Welt zu dem Schluss gekommen, dass Kurdistan eine Kolonie sei und es daher eines eigenständigen nationalen Befreiungskampfes des kurdischen Volkes bedürfe. Diese von Öcalan ab 1973 entwickelte These sollte weitreichende Folgen für die Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung und die Geschichte der Türkischen Republik haben. Die Gruppe spaltet sich von der türkischen Linken und wendet sich den kurdischen Gebieten zu. Hier stoßen ihre Ideen schnell auf fruchtbaren Boden. Gerade einmal fünf Jahre später, am 27. November 1978, heben Abdullah Öcalan und 23 weitere Mitstreiter die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aus der Taufe.

Im Exil

Die Gruppe wächst schnell und zieht nach ersten Auseinandersetzungen mit kurdischen Großgrundbesitzern auch die Aufmerksamkeit der türkischen Sicherheitsbehörden auf sich. Schon kurz nach der Gründung der Organisation kommt es zu Festnahmen, und auch Öcalan selbst gerät immer mehr in Bedrängnis. Im Frühsommer 1979 entschließt er sich daher, die Türkei zu verlassen. Er überquert illegal die Grenze in das Nachbarland Syrien. Öcalan ist sich zu diesem Zeitpunkt sicher, dass in der Türkei ein weiterer Militärputsch bevorsteht. Die dortigen politischen Auseinandersetzungen haben ihren Höhepunkt erreicht. Paramilitärische Verbände der vom Nazikollaborateur Alparslan Türkeş gegründeten ultrarechten Bewegung Graue Wölfe verbreiten als Konterguerilla Angst und Schrecken, verüben zahlreiche blutige Massaker an oppositionellen Demokraten, Sozialisten oder kurdischen Aktivisten. Für Öcalan ist der Terror der von NATO-Diensten unterstützten Gruppe das Vorspiel für eine weitere Machtübernahme des Militärs. Niemals würde es die NATO zulassen, da ist er sich sicher, dass einer ihrer Frontstaaten von revolutionären Bewegungen destabilisiert würde.

Die kommende Entwicklung vorwegnehmend entschließt er sich, eine Basis im Ausland zu errichten, die der noch jungen und durchaus fragilen Bewegung als Rückzugsort dienen soll. Über die Vermittlung von kurdischen Sympathisanten im Norden des Landes gelangt Öcalan im Sommer 1979 in die syrische Hauptstadt Damaskus und wendet sich an die Organisationen der palästinensischen Befreiungsbewegung. Nach anfänglichen Absagen stößt Öcalan bei Nayef Hawatmehs »Demokratischer Front zur Befreiung Palästinas« auf offene Ohren. Die Gruppe bietet den kurdischen Partisanen an, sich an der Ausbildung in den palästinensischen Camps in der Bekaa-Ebene zu beteiligen und in den vorgeschobenen Posten an der Grenze zu den israelisch besetzten Gebieten erste militärische Erfahrungen zu sammeln. So sickern erste Gruppen von PKK-Kadern über Syrien in den weitgehend von palästinensischen Kräften kontrollierten Libanon ein. Als am 12. September 1980 tatsächlich das türkische Militär unter Kenan Evren in der Türkei eine Junta installiert, wird auch der im Land verbliebene Teil der PKK schwer getroffen. Der Großteil ihrer Führungskader und Sympathisanten wird verhaftet und in Militärgefängnissen eingekerkert, zahlreiche Militante kommen bei Feuergefechten mit putschistischen Truppen ums Leben. Der Teil der Organisation, der sich in den Untergrund retten konnte, beginnt mit einem taktischen Rückzug.

Nachdem im Juni 1982 die israelische Armee den Libanon überfällt, werden auch die Kämpfer der PKK in direkte Auseinandersetzungen mit den Besatzern verwickelt. Syrien marschiert seinerseits in die Grenzgebiete ein und errichtet eine Art Pufferzone. In diesem von syrischem Militär kontrollierten Gebiet errichtet Öcalan in den folgenden Jahren das Hauptquartier der PKK. Die syrische Regierung unter Hafez Al-Assad verfolgt zwar selbst eine radikal antikurdische Politik im Norden des Landes, doch unter den Vorzeichen des Kalten Krieges und vor dem Hintergrund der anhaltenden türksich-syrischen Spannungen lässt Damaskus Öcalan und die PKK gewähren. Eine Destabilisierung des benachbarten NATO-Staats scheint Assad ganz gelegen zu kommen. Auch nachdem die PKK 1984 mit ihren nun ausgebildeten und gut trainierten Guerillaeinheiten nach Nordkurdistan zurückkehrt und im Rahmen ihrer »Offensive vom 15. August« – zwei Überfällen auf türkische Militärposten in den kurdischen Gebieten – die bleierne Stille der Türkei nach dem Putsch zerreißt, bleibt Syrien für Öcalan und seine Organisation lange Zeit ein relativ sicherer Rückzugsort.

Unter Druck

Doch die Türkei erhöht ihren Druck auf die syrische Regierung. Ab den 1990er Jahren ist es der türkischen Regierung möglich, mit gebauten Staudämmen die Wasserversorgung sowohl in Syrien als auch im Irak zu unterbinden, denn Euphrat und Trigris entspringen beide auf türkischem Staatsgebiet. Was es bedeutet, wenn die Türkei das Wasser abdreht, konnte man in den vergangenen Sommern in Nord- und Ostsyrien beobachten, wo der sonst mächtige Strom Euphrat zeitweise – durch die Kontrolle wichtiger Wasserwerke durch türkische Milizen – in ein trübes und schlammiges Rinnsal verwandelt wurde.

1992 gibt das syrische Regime dem Druck der Türkei nach und zwingt die PKK, ihr militärisches Ausbildungslager im Libanon zu räumen. Zwar wird Öcalan gewährt, in Damaskus eine kleine Akademie zur ideologischen Bildung seiner Kader zu unterhalten, doch die Schlinge zieht sich immer enger zu. 1996 entkommt Öcalan nur knapp einem Autobombenanschlag vor der zentralen Parteiakademie in Damaskus. Auch wenn die Täter niemals einwandfrei ermittelt werden konnten, deuten die Indizien auf den türkischen Nachrichtendienst MIT als Urheber des Attentats hin. Nachdem der Plan zur »physischen Liquidation« Öcalans scheitert, holt die Türkische Republik mit Rückendeckung der NATO im September 1998 zu einem erneuten Schlag aus. Am 16. September 1998 verkündet der damalige Kommandant der türkischen Bodenstreitkräfte Atilla Ateş medienwirksam an der Grenze zum Nachbarland Syrien, dass sein Land nicht zögern werde, die nötigen Konsequenzen zu ziehen, sollte man weiter mit »ihrer Geduld spielen«. Die türkischen Streitkräfte hatten zu diesem Zeitpunkt schon damit begonnen, Tausende Infanteristen und gepanzerte Fahrzeuge entlang der mehr als 800 Kilometer langen Grenze zusammenzuziehen.

Nach einer Sitzung des türkischen Nationalen Sicherheitsrates (MGK) am 30. September droht der damalige türkische Präsident Süleyman Demirel in einer Rede vor dem Parlament offen mit einem Krieg gegen Syrien und beruft sich auf das »Recht auf Vergeltung«. Das türkische Parlament beschließt, Syrien werde der Krieg erklärt, wenn die türkischen Bedingungen nicht binnen 45 Tagen erfüllt und Öcalan nicht ausgeliefert werde. In der Tageszeitung Hürriyet lässt sich ein ranghoher türkischer Offizier vernehmen, der behauptet, der Krieg gegen Syrien werde ein Spaziergang, man werde »am Mittag schon in Damaskus« sein.

Auch der ägyptische Präsident Hosni Mubarak schaltet sich Anfang Oktober 1998 in die Angelegenheit ein und will zwischen Ankara und Damaskus »vermitteln«; was ihn Wahrheit bedeutet, dass Assad weiter unter Druck gesetzt wird, mit der Aussicht, andere internationale Akteure könnten nun auch auf den Plan treten. Am 3. Oktober beginnt ein unangekündigtes Manöver von elf NATO-Staaten unter dem Namen »Dynamic Mix 98« in İskenderun, nahe der türkisch-syrischen Grenze. Die USA verlegen in diesem Rahmen 2.500 US-Marines an die syrische Grenze. Als dann am 7. Oktober ein mit Tomahawk-Raketen bestücktes US-amerikanisches Kriegsschiff ins Mittelmeer einfährt und zahlreiche Kampfjets auf die NATO-Basis in İncirlik verlegt werden, begreift die syrische Regierung, wie sehr sie in die Enge getrieben worden ist. Sie sucht das Gespräch mit Öcalan.

Große Odyssee

Nachdem Öcalan verständlich gemacht worden ist, dass er in Syrien fortan unerwünscht sei, besteigt er am 9. Oktober 1998 ein Flugzeug und verlässt Damaskus in Richtung der griechischen Hauptstadt Athen. Dort empfangen ihn zwei Agenten des griechischen Geheimdienstes. Die beiden machen Öcalan unmissverständlich klar, dass er unmöglich in Griechenland bleiben könne. Noch während er sich im Transitbereich aufhält, trifft per Fax eine Einladung aus Russland ein, und noch am selben Tag wird Öcalan mit einem Sonderflug des griechischen Außenministeriums nach Moskau geflogen. In Moskau wird er vom stellvertretenden Präsidenten der Duma, Wladimir Schirinowski, empfangen und in den folgenden Tagen in einer abgelegenen Hütte nahe Moskaus beherbergt. Öcalan beantragt Asyl in der Russischen Föderation. Am 4. November nehmen die Abgeordneten der Duma mit 298 zu eins Stimmen sein Ersuchen an. Trotz der Entscheidung des russischen Parlaments und der Tatsache, dass Öcalan nach russischem Recht Asyl hätte gewährt werden müssen, währt sein Aufenthalt in Moskau aber nur knappe 33 Tage. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin stellt sich gegen die Entscheidung seines Parlaments. Dahinter stecken möglicherweise die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und der Russischen Föderation. So erklärt der türkische Generalstabschef Hüseyin Kıvrıkoğlu schon am 29. Oktober, dass die Türkei »Investitionen in der Höhe von zehn Milliarden Dollar« in Russland getätigt habe, und fügt hinzu: »Wenn Moskau klug ist, wird es Apo nicht unterstützen.« Doch auch die USA wenden sich mit klaren Worten an die Russische Föderation. So erklärt der Sprecher des US-Außenministeriums James Rubin am 5. November, dass man Russland »dazu aufgefordert« habe, »die notwendigen Schritte für eine (…) Auslieferung einzuleiten«. Kein Land dürfe einem Terroristen Asyl gewähren.

Nachdem Öcalan das politische Asyl verweigert worden ist, reist er am 12. November unter Vermittlung des italienischen kommunistischen Politikers Ramon Mantovani (Rifondazione Comunista) über Rom nach Italien ein. Öcalan wird kurzzeitig festgenommen und anschließend von den italienischen Behörden in einer eigens gesicherten Villa am Rande Roms untergebracht. Die Meldung von der Ankunft Öcalans macht schnell die Runde. So soll Necati Bilican, Chef der türkischen Polizei, schon am Morgen des 13. November von deutschen Beamten von der Einreise Öcalans erfahren haben. Bilican hält sich zu diesem Zeitpunkt im Rahmen einer internationalen Übung zur Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit in Wiesbaden auf. Die deutschen Behörden reagieren prompt und ziehen ein ihrerseits erstelltes Auslieferungsgesuch gegen Öcalan schnellstmöglich zurück. Nach europäischem Standard hätten die italienischen Behörden ihn aufgrund der von der BRD wegen »Rädelsführerschaft in einer terroristischen Organisation« ausgeschriebenen Fahndung an die deutschen Strafverfolger übergeben müssen. Doch dem deutschen Staat scheint der Fall Öcalan nun wohl etwas zu heiß.

Doch auch Italien muss Öcalan nach nur 66 Tagen verlassen. Das Ziel, Italien und die Europäische Union zu nutzen, um auf eine politische Lösung der kurdischen Frage hinzuarbeiten, scheitert nicht zuletzt an der Intervention der USA. Noch am 29. November erklären der italienische Außenminister Lamberto Dini und sein deutscher Amtskollege Joseph »Joschka« Fischer in Rom ihre Absicht, für den Fall Öcalan ein internationales Sondergericht einzurichten. Doch der Nationale Sicherheitsberater der USA, Samuel »Sandy« Berger, hatte schon tags zuvor erklärt, dass es keine Option sei, Öcalan vor eine solche internationale Gerichtsbarkeit zu stellen. Eine Auslieferung an die Türkei sei für die USA die einzig akzeptable Option. Schon am 3. Dezember ziehen Deutschland und Italien ihren Vorschlag zurück, Fischer erklärt, dass die BRD und Italien allein kein internationales Gericht schaffen könnten. In einem Interview im Jahre 2003 erläuterte dann der damalige italienische Premier Massimo D’Alema, wie die Lösungssuche der europäischen Mächte von den USA blockiert wurde. US-Präsident Bill Clinton habe ständig angerufen und gefordert, den »Terroristen« Öcalan an die Türkei auszuliefern.

Da trotz massenhafter Mobilisierung von Kurdinnen und Kurden in Rom keine Lösung in Sicht ist und er nicht auf unbestimmte Zeit im italienischen Hausarrest verbleiben kann, verlässt Öcalan am 16. Januar 1999 Italien und bricht nach Russland auf. Sein erneutes Asylgesuch scheitert an den wirtschaftlichen und politischen Interessen der russischen Oligarchie. Am 29. Januar landet Öcalan wieder in Griechenland. Die dortige Regierung stellt dem Verfolgten nun eine Option in Aussicht. Mit einem Flugzeug soll er ins Exil in die Niederlande gebracht werden. Doch statt in den Niederlanden landet der Flieger in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Öcalan ahnt, dass im Hintergrund ein Plan ablaufen könnte. Er weigert sich, die Maschine zu verlassen und kehrt zurück nach Griechenland. Abermals wird Öcalan mit falschen Versprechungen in ein Flugzeug gelockt. Der griechische Nachrichtendienst stellt ihm ein Asyl im Südafrika Nelson Mandelas in Aussicht, doch vorerst müsse er einen Zwischenstopp in Kenia einlegen. Er könne solange Schutz in der griechischen Botschaft in Nairobi suchen.

Doch nachdem Öcalan am 2. Februar in Nairobi eingetroffen ist, beginnen die Vorbereitungen zu seiner Entführung. Eine Weiterreise nach Südafrika war niemals geplant. Während der türkische Geheimdienst MIT sein Team nach Nairobi verlegt und die US-Außenministerin Madeleine Albright am 5. Februar erneut verkündet, dass die USA, jedes Land zur Rechenschaft ziehen würden, das Öcalan Asyl gewähre, erklären auch die Niederlande Öcalan zur »Persona non grata«. Die kenianischen Behörden drohen der griechischen Botschaft immer offener und setzen für den 15. Februar ein Ultimatum zur Auslieferung Öcalans. Am Abend erteilt die griechische Regierung der Botschaft in Nairoibi dann den Befehl, Öcalan aus ihrer nationalen Vertretung zu entfernen. Als er das Botschaftsgelände verlässt, wartet der kenianische Geheimdienstchef Noan Arap Ta und ein Land Cruiser der kenianischen Polizei auf ihn. Im Fahrzeug wird Öcalan überwältigt, seine Arme und Beine werden gefesselt. Am Flughafen übergeben die Kenianer ihn an ein türkisches Geheimdienstteam.

Internationales Komplott

Für Öcalan und die PKK steht fest, dass die federführenden Kräfte hinter dem Komplott nicht der türkische Geheimdienst, sondern vor allem die US-amerikanische CIA und der israelische Mossad waren. Zwar streiten beide Dienste bis heute ihre Verwicklung in die Entführung Öcalans vehement ab, doch gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass die beiden Dienste, wenn nicht direkt involviert, so doch bestens informiert gewesen sein müssen. So hielten sich beispielsweise zum Zeitpunkt der türkischen Operation, die den makabren Namen »Safari« trug, über 100 Agenten der CIA in Nairobi auf. Die Entführung fällt in die Zeit kurz nach dem Al-Qaida Anschlag auf die US-Botschaft in Nairobi. Es ist schwer vorstellbar, dass auch irgendein Dienst dieser Welt zu diesem Zeitpunkt in Nairobi operieren konnte, ohne die US-amerikanischen Kollegen um Erlaubnis zu bitten. Brisant ist auch, dass der Flug der türkischen Privatmaschine über Tel Aviv nach Istanbul führte. Bei einem derartigen Passagier scheint es kaum möglich, dass der israelische Nachrichtendienst nicht in die Pläne eingeweiht worden ist. Daneben sind auch die engen Beziehungen zwischen Kenias damaliger Regierung und Israel bekannt. So wurde die Leibgarde des kenianischen Präsidenten vom Mossad ausgebildet.

Auch wenn die Verwicklung beider Dienste weiterhin nicht geklärt ist, äußerte der ehemalige türkische Präsident Süleyman Demirel schon 2002, dass die CIA Öcalan an die Türkei ausgeliefert habe. In einem Interview vom 18. Februar 1999 erklärte die US-Außenministerin Madeleine Albright offen, dass man »geraume Zeit« daran gearbeitet habe, sicherzustellen, dass Öcalan »der Gerechtigkeit zugeführt werde«. Für Öcalan steht fest, dass seine Festnahme und Inhaftierung nur das Resultat eines internationalen Komplotts gewesen sein kann. Der Türkei sei dabei lediglich die »Rolle des Gefängniswärters« zugekommen.

Seitdem die Todesstrafe gegen ihn im Jahr 2002 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt worden ist, befindet sich Öcalan in einer immer wieder durchbrochenen Isolationshaft auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer. Nachdem die türkische Regierung im Jahr 2015 die Verhandlungen mit der kurdischen Freiheitsbewegung einseitig beendet hatte, wurde entgegen internationaler Konventionen allen politischen Delegationen der Zugang zum Gefangenen Öcalan untersagt. Seit 2011 haben seine Anwälte keinen direkten Kontakt mehr zu ihrem Mandanten. Seit einem kurzen, aus unbekannten Gründen unterbrochenen Telefonat mit seinem Bruder Mehmed Öcalan im April 2021, gibt es kein einziges Lebenszeichen mehr von dem Gefangenen.

Auch aus diesem Grund haben demokratische, progressive und sozialistische Aktivistinnen und Aktivisten am 10. Oktober vergangenen Jahres anlässlich des 25. Jahrestags der Ausreise Öcalans aus Syrien an über 70 verschiedenen Orten weltweit Pressekonferenzen abgehalten und dessen sofortige Freilassung gefordert. Im Rahmen der Kampagne »Freiheit für Abdullah Öcalan – Eine Lösung für die kurdische Frage« ruft auch der Dachverband der kurdischen Vereine in Deutschland, Kon-Med, für den 17. Februar zu einer europaweiten Demonstration in Köln auf. Für den Verband, der sich als Interessenvertretung der Kurdinnen und Kurden in Deutschland betrachtet, stellt die Freilassung Öcalans den Schlüssel zur Lösung der kurdischen Frage und einer friedlichen Beilegung der Konflikte dar.

Tim Krüger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. Februar über ein von der Türkei und Aserbaidschan vorangetriebenes Pipelineprojekt.

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