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Aus: Ausgabe vom 02.03.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Hebel geistigen Fortschritts

Friedrich Engels im »Anti-Dühring«: Die Erkenntnis des Gesamtzusammenhangs der Welt ist nie abgeschlossen
Von Friedrich Engels
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»Kenntnisse von der Welt und was in ihr vorgeht« – Chinesische Wissenschaftler in einer Zuchtstation für Pflanzen in Lianyungang (29.2.2024)

Wenn wir den Weltschematismus nicht aus dem Kopf, sondern bloß vermittelst des Kopfs aus der wirklichen Welt, die Grundsätze des Seins aus dem, was ist, ableiten, so brauchen wir dazu keine Philosophie, sondern positive Kenntnisse von der Welt und was in ihr vorgeht; und was dabei herauskommt, ist ebenfalls keine Philosophie, sondern positive Wissenschaft. (…)

Ferner: wenn keine Philosophie als solche mehr nötig, dann auch kein System, selbst kein natürliches System der Philosophie mehr. Die Einsicht, dass die Gesamtheit der Naturvorgänge in einem systematischen Zusammenhang steht, treibt die Wissenschaft dahin, diesen systematischen Zusammenhang überall im einzelnen wie im ganzen nachzuweisen. Aber eine entsprechende, erschöpfende, wissenschaftliche Darstellung dieses Zusammenhangs, die Abfassung eines exakten Gedankenabbildes des Weltsystems, in dem wir leben, bleibt für uns sowohl wie für alle Zeiten eine Unmöglichkeit. Würde an irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsentwicklung ein solches endgültig abschließendes System der Weltzusammenhänge, physischer wie geistiger und geschichtlicher, fertiggebracht, so wäre damit das Reich der menschlichen Erkenntnis abgeschlossen, und die zukünftige geschichtliche Fortentwicklung abgeschnitten von dem Augenblick an, wo die Gesellschaft im Einklang mit jenem System eingerichtet ist – was eine Absurdität, ein reiner Widersinn wäre. Die Menschen finden sich also vor den Widerspruch gestellt: einerseits das Weltsystem erschöpfend in seinem Gesamtzusammenhang zu erkennen, und andrerseits, sowohl ihrer eignen wie der Natur des Weltsystems nach, diese Aufgabe nie vollständig lösen zu können. Aber dieser Widerspruch liegt nicht nur in der Natur der beiden Faktoren: Welt und Menschen, sondern er ist auch der Haupthebel des gesamten intellektuellen Fortschritts und löst sich tagtäglich und fortwährend in der unendlichen progressiven Entwicklung der Menschheit, ganz wie z. B. mathematische Aufgaben in einer unendlichen Reihe oder einem Kettenbruch ihre Lösung finden. Tatsächlich ist und bleibt jedes Gedankenabbild des Weltsystems objektiv durch die geschichtliche Lage und subjektiv durch die Körper- und Geistesverfassung seines Urhebers beschränkt. (…)

Wie die Grundgestalten des Seins, meint Herr Dühring, auch die gesamte reine Mathematik apriorisch, d. h. ohne Benutzung der Erfahrungen, die uns die Außenwelt bietet, aus dem Kopf heraus fertigbringen zu können. In der reinen Mathematik soll sich der Verstand befassen »mit seinen eignen freien Schöpfungen und Imaginationen«. (…) Dass die reine Mathematik eine von der besondern Erfahrung jedes einzelnen unabhängige Geltung hat, ist allerdings richtig und gilt von allen festgestellten Tatsachen aller Wissenschaften, ja von allen Tatsachen überhaupt. Die magnetischen Pole, die Zusammensetzung des Wassers aus Wasserstoff und Sauerstoff, die Tatsache, dass Hegel tot ist und Herr Dühring lebt, gelten unabhängig von meiner oder andrer einzelnen Leute Erfahrung, selbst unabhängig von der des Herrn Dühring, sobald er den Schlaf des Gerechten schläft. Keineswegs aber befasst sich in der reinen Mathematik der Verstand bloß mit seinen eignen Schöpfungen und Imaginationen. Die Begriffe von Zahl und Figur sind nirgends anders hergenommen, als aus der wirklichen Welt. Die zehn Finger, an denen die Menschen zählen, also die erste arithmetische Operation vollziehn gelernt haben, sind alles andre, nur nicht eine freie Schöpfung des Verstandes. Zum Zählen gehören nicht nur zählbare Gegenstände, sondern auch schon die Fähigkeit, bei Betrachtung dieser Gegenstände von allen ihren übrigen Eigenschaften abzusehn außer ihrer Zahl – und diese Fähigkeit ist das Ergebnis einer langen geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Entwicklung. Wie der Begriff Zahl, so ist der Begriff Figur ausschließlich der Außenwelt entlehnt, nicht im Kopf aus dem reinen Denken entsprungen. Es musste Dinge geben, die Gestalt hatten und deren Gestalten man verglich, ehe man auf den Begriff Figur kommen konnte. (…) Wie alle andern Wissenschaften ist die Mathematik aus den Bedürfnissen der Menschen hervorgegangen: aus der Messung von Land und Gefäßinhalt, aus Zeitrechnung und Mechanik. Aber wie in allen Gebieten des Denkens werden auf einer gewissen Entwicklungsstufe die aus der wirklichen Welt abstrahierten Gesetze von der wirklichen Welt getrennt, ihr als etwas Selbständiges gegenübergestellt, als von außen kommende Gesetze, wonach die Welt sich zu richten hat. So ist es in Gesellschaft und Staat hergegangen, so und nicht anders wird die reine Mathematik nachher auf die Welt angewandt, obwohl sie eben dieser Welt entlehnt ist und nur einen Teil ihrer Zusammensetzungsformen darstellt – und grade nur deswegen überhaupt anwendbar ist. (…)

Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Stuttgart 1894. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels (MEW-Werke), Band 20. Dietz-Verlag, Berlin 1968,
­Seiten 34–36

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