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Aus: Feminismus, Beilage der jW vom 06.03.2024
Feminismus

Kein Schutzplatz frei

»Leicht angebrochen und blutig«: Partnerschaftliche Gewalt in Berlin
Von Annuschka Eckhardt
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»Im Township herrscht ein tief verwurzeltes Zugehörigkeitsgefühl, und wer die Anforderungen des Raums nicht erfüllt, wird oft an den Rand gedrängt oder als ›anders‹ gebrandmarkt«, erklärt Unathi Ferguson

Eine Frau zu finden, die über partnerschaftliche Gewalt spricht, ist schwer. Dabei kennt – statistisch gesehen – jeder in der BRD Frauen, die davon in ihrem privaten Umfeld betroffen sind, so auch die Autorin. Laut Studien hat mindestens jede vierte Frau diese Form der Gewalt schon einmal erlebt.

»Natürlich war es nicht das erste Mal, aber das schlimmste«, sagt Anni*. Sie sitzt in ihrer Kreuzberger Einzimmerwohnung und dreht sich eine Zigarette. Ihre Nägel sind lang, künstlich und schwarzlila, sie wirken wie eine gefährliche Waffe, mit der man jemandem ein Auge auskratzen könnte. »Es war vor ungefähr eineinhalb Jahren, ich war bei meinem Freund zu Hause. Wir wohnen sehr nah beieinander, ungefähr fünf Minuten Fußweg. Wir kamen vom Feiern nach Hause, die Situation eskalierte und es kam zu Handgreiflichkeiten, auch mit einem Stuhl, das war wirklich sehr schlimm.« Annis Nase sei »auf jeden Fall leicht angebrochen und blutig« gewesen, Beine und Arme voller Hämatome. »Und dann hat er mich vor die Tür geschmissen, sehr grob, ohne Klamotten. Ich hatte nur ein langes T-Shirt von ihm an und bin barfuß ohne Unterhose nach Hause gelaufen«, Anni zieht an ihrer Zigarette und pustet den Rauch in Ringen aus. »Währenddessen – weil er mich halt bedroht hat, habe ich die Bullen gerufen, das würde ich sonst niemals machen. Aber ich hatte solche Angst, dass er mich verfolgt.«

Um Leben und Tod

Die Frage, ob die Polizei jemanden zu ihr schicken soll, verneinte Anni und legte auf. Kurze Zeit später klingelte und klopfte es aggressiv an ihrer Wohnungstür im Hinterhaus. »Da standen sechs Polizisten und eine Polizistin vor der Tür, sind mir fast die Bude eingerannt«, erzählt die 32jährige. Sie habe sich nicht wie ein Opfer gefühlt in dem Moment, sondern als habe sie etwas falsch gemacht. »Warum sind die zu mir gefahren und nicht zu meinem Freund? Die Adressen hatten sie ja offensichtlich«, sie schnauft verächtlich und wirft ihre hüftlangen, braunen Haare zurück.

Wenn man auf der Website der Stadt Berlin nach »Hilfe und Angebote für Frauen« sucht, findet man zum Thema »Schutz vor Gewalt« fünf Beratungsstellen, die erste gelistete ist BIG e. V. – Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen. Die Hotline der Beratungsstelle war seit 2017 wegen fehlender Finanzierung nur zwischen acht und 23 Uhr erreichbar, seit dem 1. Februar ist sie wieder rund um die Uhr erreichbar.

Allein im Januar wurde 742mal bei der Hotline angerufen, ein Anstieg um 23 Prozent zum Vorjahr. Unter den Anrufenden waren 429 betroffene Frauen, 158 professionelle Unterstützer oder Institutionen und 89 private Unterstützer, wie Angehörige, Nachbarn oder Freunde. Insgesamt wurde allein im Januar bei 335 Anrufen unter anderem der Bedarf nach einer Schutzunterkunft für betroffene Frauen und auch für Fachpersonen ermittelt. Innerhalb dieser 335 Beratungsgespräche musste 230mal erklärt werden, dass in Berlin keine freien Schutzplätze zur Verfügung stehen. Das Angebot der BIG-Hotline ist anonym. Die Anliegen der Anrufenden werden nicht nachverfolgt.

»Wir erhalten täglich von den Frauenhäusern und von allen anderen Schutzplätzen, wie den Zufluchtswohnungen, eine Aktualisierung ihrer freien Plätze. Wir sehen zum Beispiel morgens, wenn ein Platz in einem Haus frei ist, dann vermitteln wir den Kontakt an eine Frau mit Vermittlungswunsch. Die Frau ruft dann selber bei dem Frauenhaus an«, erklärt Sama Zavaree, Koordinatorin der BIG-Hotline in ihrem Büro in Westberlin. Auf die Frage, wie viele freie Schutzplätze es am vergangenen Tag gegeben habe, antwortet sie, ohne nachschauen zu müssen: »Keinen.«

»Wenn betroffene Frauen und ihre Kinder keinen Platz finden, ist das sehr dramatisch, denn es kann um Leben und Tod gehen«, erzählt Zavaree. Eigentlich gelte laut dem Gewaltschutzgesetz das Prinzip »Wer schlägt, der geht«, es gebe die Möglichkeit, dass über eine sogenannte Wegweisung der Täter der Wohnung verwiesen wird und sich der Wohnung dann auch nicht nähern dürfe. In dieser Zeit könne der Gewaltschutzantrag gestellt werden. Leider sähe die Praxis aber ganz anders aus, es seien doch meistens die Frauen mit ihren Kindern zusammen, die fliehen müssten. Doch wohin? »Tatsächlich, und das ist schon eine ziemlich bittere Angelegenheit, geht es dann darum, die Notübernachtungen in Berlin durchzutelefonieren. Die sind auch voll. Und das sind auch nicht die geeigneten Räume für Personen, die akut von Gewalt betroffen sind«, gibt Zavaree Einblicke in ihre Arbeit.

In allen Klassen

Mehr Frauenhäuser, Schutzplätze und Notfallwohnungen scheinen jedoch keine Priorität zu haben: Selbst seit rund 30 Jahren etablierte Organisationen wie BIG warten Jahr für Jahr zermürbend lange auf die Zusicherungen für ihre Projektanträge: »Es mangelt im Grunde nicht an Gesetzen, sondern es mangelt an dem politischen Willen. Die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zum Schutz von Frauen vor Gewalt, jW) durchzusetzen, bedarf Ressourcen und kostet nun einmal Geld«, sagt Zavaree. Doch selbst, wenn es 1.000 Schutzplätze mehr gäbe, wäre das Problem nicht gelöst.

Patriarchale Gewalt hat mit unserer Gesellschaft in Deutschland zu tun. »Frauen werden immer noch als weniger wert angesehen und verdienen weniger«, führt auch Zavaree aus. Dies fördere Abhängigkeiten, genau wie der entfesselte Wohnungsmarkt. »Häusliche Gewalt findet in allen Klassen und allen Altersstufen weltweit statt, unabhängig von der Herkunftsbiographie oder sozialer Zugehörigkeit. Oftmals begegnen uns rassistische und klassistische Klischees in Diskursen über Gewalt an Frauen, die nicht nur von den Rechten instrumentalisiert werden, um populistische Forderungen zu entwickeln.«

Davon kann Anni ein Lied singen: Ihr Vermieter besuchte sie kürzlich unangekündigt und fragte sie, ob sie einen »türkischen Hintergrund habe«, und gemeinsam mit ihrem »wohl türkischen Freund« Drogen in der Wohnung verkaufen würde, was sie beides verneinte. Der Vermieter hätte von Nachbarn von Geschrei und Polizeieinsätzen gehört. »Das fühlt sich an, als würde ich doppelt auf’s Maul bekommen.«

*Name ist der Redaktion bekannt

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