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Aus: Feminismus, Beilage der jW vom 06.03.2024
Feminismus

»Kommunistinnen mobilisieren«

Politisches und Persönliches: Clara Zetkins »Revolutionsbriefe«. Ein Gespräch mit Marga Voigt
Von Florence Hervé
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Die trans Frau Mthulic Vee Vuma sitzt in traditioneller weiblicher Xhosa-Kleidung vor einer Hütte in Khayelitsha

Clara Zetkins Werk ist bisher noch wenig erschlossen. Nach einer langjährigen, aber unvollständig gebliebenen Zetkin-Forschung in der DDR – in der BRD war Zetkin Persona non grata – gelang in den 90er Jahren ein erster Durchbruch mit der Zetkin-Biografie des französischen Germanisten und Widerstandskämpfers Gilbert Badia. Ein weiterer Meilenstein war mehr als 20 Jahre danach die Herausgabe der »Kriegsbriefe« 1914–1918 durch die Slawistin und Bibliothekarin Marga Voigt – eine Fundgrube zu Zetkins Engagement u. a. in der Frauen- und Friedenspolitik. Die »Revolutionsbriefe« umfassen nun die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie die Auseinandersetzungen in der KPD und in der Kommunistischen Internationale.

Zahlreiche Briefe richten sich zunächst an Luxemburgs Vertraute Mathilde Jacob. Es geht um das Bewahren von Luxemburgs Erbe, um den Beitritt zur KPD, um die Einbeziehung von Frauen in die Räte. Auch wenn ab 1921 die Briefe an Funktionäre der KPD und der Kommunistischen Internationale überwiegen, spiegelt sich Frauenpolitik in dieser Phase immer wider, so in den Briefen an die Revolutionärin Alexandra Kollontai, an die russisch-sowjetische Politikerin Jelena Stassowa und an Hertha Sturm, Mitarbeiterin des Reichsfrauensekretariats der KPD und Redakteurin von Die Kommunistin.

Der Band »Revolutionsbriefe« enthält fast doppelt so viele Briefe wie der erste Band. Worauf lässt sich die besonders rege Korrespondenz zurückführen?

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war das Wahlrecht in Deutschland für Frauen erstritten. Als Politikerin und Abgeordnete der USPD in der Verfassunggebenden Landesversammlung Württembergs in den Jahren 1919/20 trat Clara Zetkin für eine grundsätzlich andere als die bürgerliche Gesellschaftsordnung in Deutschland ein. Deshalb stimmte sie 1919 in Stuttgart gegen die Annahme der Verfassung des Freien Volksstaates Württemberg. Ihre Zustimmung zur Oktoberrevolution in Russland und zum sich neu konstituierenden Sowjetrussland bestimmte ihr politisches Wirken für eine Räterepublik auch in Deutschland. Nach den Morden an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches trat sie in deren Partei ein und kandidierte 1920 als Spitzenkandidatin der KPD bei der Reichstagswahl.

Hinzu kommen die Briefe Zetkins, die ihre Mitarbeit an der von Lenin begründeten Kommunistischen Internationale mit Sitz in Moskau bezeugen und die von ihr mitbegründete Kommunistische Fraueninternationale. Damit verbunden sind ihre zahlreichen Ideen und Aktivitäten, um die in Europa organisierten Kommunistinnen für die internationale Arbeit zu mobilisieren. Wieder versuchte Zetkin, mit einer Zeitschrift die Tätigkeiten der Kommunistischen Fraueninternationale zu stärken und besser zu vernetzen.

Nicht nur den deutschen Kommunistinnen und Kommunisten war damals der Gedanke nahe, dass die Oktoberrevolution in Russland der Ausgangspunkt für Revolutionen auch in den Ländern Mittel- und Westeuropas sei. Aus Zetkins Briefen erfahren wir vom Ringen in den neu entstehenden Kommunistischen Parteien, wie proletarische Revolutionen in Programmen politisch umsetzbar, ja, in revolutionären Aktionen durchsetzbar seien. In diesen äußerst bewegten Jahren der Zustimmung und Ablehnung der Beschlüsse auf den Kongressen der Komintern beteiligte sich Zetkin aktiv.

Unter welchen Gesichtspunkten wurde die Auswahl der Briefe getroffen?

Ausgewählt haben wir die politischen Briefe Zetkins, soweit wir sie in den ehemaligen Parteiarchiven der SED, heute im Bundesarchiv in Berlin, und der KPdSU, heute im Russischen Staatsarchiv für soziopolitische Geschichte in Moskau, gefunden haben. Hinzu kommen Landes- und Staatsarchive in Deutschland, der Schweiz, Dänemark, Schweden u. a. Private Briefe haben wir aufgenommen, sobald sie Politisches und Persönliches entdecken lassen. So zeigen die Briefe an Maxim das Vertrauen zwischen Mutter und Sohn, und wir erfahren Persönliches; beeindruckend ihr Mut zu illegalen Grenzübertritten, um auch ohne Visum an den politischen Auseinandersetzungen in Frankreich und Italien teilnehmen zu können.

Im Band enthalten ist Zetkins Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale vom 20. Juni 1923, »Der Kampf gegen den Faschismus«. Warum ist dieses Dokument so wichtig?

Zetkin konnte dank ihrer Italienischkenntnisse die politischen Auseinandersetzungen in der italienischen Gesellschaft verfolgen und kannte die zeitgenössischen Veröffentlichungen. Sie sah in Italien das »klassische Beispiel für die Entwicklung und das Wesen des Faschismus«, leitete daraus allgemeingültige Gefahren ab und sah vorausblickend Parallelen zu den sich zuspitzenden gesellschaftlichen Kämpfen in Deutschland und Europa. Ihre Aussage von der Bedeutung der politischen Überwindung des Faschismus ist offenbar zeitlos gültig.

Ein Brief betrifft den Prozess der Sozialrevolutionäre 1922 in der Korrespondenz mit der niederländischen Sozialdemokratin Mathilde Wibaut. Wie schätzen Sie diesen Brief ein?

Ich sehe den Brief – Wibaut zur Antwort – wie einen »Schlüssel« zum Verständnis von Zetkins »Willensziel«, wie sie es für sich selbst formulierte: die soziale Revolution. Aufrichtig bekundet sie der Briefschreiberin, »ungeachtet aller Meinungsgegensätze« habe sie nie »politische Meinungen zum alleinigen Maßstab des persönlichen Wertes« erhoben. Dennoch zeige ihr der »offene Brief« von Wibaut den deutlichen »Wandel der Auffassung … der sozialistischen Frauenbewegung Hollands«. Ganz ungeschminkt besteht Zetkin im Gegenzug auf der konsequenten Entwicklung ihrer festverwurzelten Überzeugung: Sie habe »nachdrücklichst das Recht und die Pflicht des Obersten Revolutionsgerichts vertreten, mit aller Kraft und Gerechtigkeit in aufgezwungener Notwehr die … Sowjetordnung der russischen Arbeiter und Bauern wider Gegenrevolutionäre zu schützen«. Sie spricht in dem Brief von »Selbstaufgabe, wollte die Sowjetrepublik in dieser Zeit des Ringens Brust an Brust mit dem Todfeind die Sozialrevolutionäre nicht behandeln als das, was sie sind: als Gegenrevolutionäre, als Stoßtruppen der russischen, der internationalen Bourgeoisie«.

Ist die Vielfalt der angesprochenen Themen und die Mischung von politischer Analyse, Empathie und Fürsorge ein Ausdruck der Vielseitigkeit Zetkins und ihrer Verknüpfung von Politischem und Privatem?

Aber ja! Das macht das Lesen so spannend – dieses Mitfiebern und Mitringen in den politischen Auseinandersetzungen, aber auch in den persönlichen Beziehungen. Ihre Kenntnis und Belesenheit ermöglichen es ihr, in der politischen Argumentation Worte der europäischen Klassiker aus Literatur, Politik und Geschichte trefflich zu nutzen und ihre Einsichten und Anliegen zu verdeutlichen. Ihr Fleiß beim Verfassen so ausführlicher Briefe ist erstaunlich, sie sind gleichermaßen umfangreich bei sachlich-analytischen politischen Themen wie bei persönlicher Anteilnahme.

Was hat Sie am meisten überrascht oder berührt?

Überrascht bin ich von Zetkins stets unkritischer Verehrung für Lenin – in allen ihren Briefen an ihn persönlich ohnehin –, aber auch, wie beständig sie anderen ihre Verehrung nicht verhehlte. Berührt bin ich, wie schmerzlich Zetkin der brüske persönliche Bruch mit dem Mitgründer der KPD, Paul Levi, war. Ich glaube, so sehr, wie sie sich in den innerparteilichen Auseinandersetzungen 1921 an seiner Seite wusste und ihn schätzte, so wenig fassbar erschien ihr der jähe menschliche Bruch nach seinem Ausscheiden aus der Partei.

Beim Lesen ihrer Briefe empfand ich die enormen Ungleichgewichte zwischen dem Bestreben und Bewirken (können) von Clara Zetkin in den Jahren 1919 bis 1923.

Jörn Schütrumpf und Marga Voigt (Hrsg.): Clara Zetkin – Die Briefe 1914 bis 1933. Band 2: Die Revolutionsbriefe (1919–1923), Dietz-Verlag, Berlin 2023, 760 Seiten, 49,90 Euro

Florence Hervé hat unter anderem als Herausgeberin »Clara Zetkin oder: Dort kämpfen, wo das Leben ist« (2007, 4. Auflage 2020) und »Mit Mut und List. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg« (2020) veröffentlicht

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