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Aus: Ausgabe vom 10.05.2024, Seite 2 / Inland
Erschöpfungssyndrom

»Es findet so gut wie keine Versorgung statt«

Menschen, die vom Chronischen Fatigue-Syndrom betroffen sind, organisieren sich. Ein Gespräch mit Gritt Buggenhagen
Interview: Milan Nowak
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Kundgebung von Betroffenen in Berlin (8.8.2023)

Sie organisieren am Sonnabend bundesweit die sogenannten Liegenddemos. Worum geht es dabei und wie kam es dazu?

Die erste Demonstration fand 2023 vor dem Bundestag statt, um Aufmerksamkeit für die Krankheit ME/CFS zu schaffen. Daraus ging ein Trauergang in Berlin hervor. Bald kam die Frage auf, ob wir das auch woanders machen wollen. Im letzten Jahr zogen wir durch 17 deutsche Städte, Wien und Zürich. Als Abschluss haben wir nun zum 11. Mai die Liegenddemos in 12 Städten bundesweit organisiert.

Sie demonstrieren als Betroffene der Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS), auch als Chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt. Was genau ist das?

Es ist eine multisystemische, neuroimmunologische Erkrankung mit vielen Symptomen. Das Kernmerkmal ist die sogenannte postexertionelle Malaise, kurz PEM: Nach Überschreitung einer individuellen Belastungsgrenze verschlechtern sich alle Symptome drastisch. Das kann einige Tage anhalten, aber auch jahrelang oder gar dauerhaft. Das hängt über den Erkrankten wie ein Damoklesschwert. Sie müssen immer aufpassen, sich nicht zu überanstrengen, obwohl sie sich nach Aktivität sehnen. Darin unterscheidet sich die Krankheit von einer Depression.

Bundesweit sind bis zu 500.000 Menschen betroffen. Wie ist die aktuelle Versorgungslage?

Es findet so gut wie keine Versorgung statt, weder pflegerisch noch medizinisch. Die Pflege wird von Angehörigen getragen. Kranke ohne Angehörige liegen in teils jämmerlichen Zuständen in ihren Betten. Es gibt bundesweit zwei spendenfinanzierte medizinische Zentren, welche ME/CFS diagnostizieren: in der Charité in Berlin nur für Berliner und Brandenburger und an der Technischen Universität München nur für Kinder. Die wenigen fachkundigen Ärzte sind überlaufen und meist privat. Es gibt kein zugelassenes Medikament. Menschen mit ME/CFS bekommen nur in schweren Fällen, nach langen Kämpfen einen Pflegegrad, einen Behinderungsgrad oder eine Rente.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte jüngst eine Wende im Umgang mit dem Befund Long Covid an. Wie beurteilen Sie das?

Long Covid ist eine Ansammlung diverser Erkrankungen, die auf eine Covid-Infektion folgen. Eine davon ist ME/CFS, sofern Beschwerden länger als sechs Monate anhalten und das Kernmerkmal der PEM gegeben ist. Nur dann erreichen Forschung und Förderung auch Menschen mit ME/CFS. Sie werden aber oft ausgeschlossen von den Programmen: Die PEM wird nicht abgefragt, etwa 25 Prozent der ME/CFS-Erkrankten können aufgrund von Bettlägerigkeit nicht an Studien teilnehmen, dauerhafte Erkrankungen gelten als chronifiziert und werden nicht mehr untersucht. Oft werden nur Menschen untersucht, die einen positiven PCR-Test vorweisen können. Jene, die ME/CFS nicht durch Covid bekommen haben, sind ausgeschlossen. Die Politik konzentriert sich auf Versorgungsforschung. Also Forschung dazu, wie man uns versorgen könnte. Das ist weder medizinische Forschung noch Versorgung, sondern irgendein Gerüst, das in zehn Jahren einmal interessant sein könnte. Für Therapieforschung sind zur Zeit nur acht Millionen Euro Bundesmittel vorgesehen.

Was fordern Sie von der Regierung?

Wir fordern ein eigenes Forschungsprogramm für die Krankheit. ME/CFS muss als eigenständige klinische Entität beforscht werden. Wir fordern niedrigschwellige Aufklärung, Fortbildungen für medizinische Berufe, bessere Versorgung durch interdisziplinäre Einrichtungen, umfassende Forschungsförderung, bessere ambulante Pflege der Betroffenen und entlastende Unterstützung ihrer Angehörigen.

Wie kann man Sie und Ihr Anliegen unterstützen?

Wir rufen jeden auf, zu den Demos zu kommen. Viele Erkrankte können selber nicht hingehen. Wir haben auch eine Challenge unter dem Hashtag #liegenddemoFürMECFS in den sozialen Netzwerken ins Leben gerufen. Am 11. Mai um 14 Uhr legen sich Menschen bundesweit auf den Boden und halten ein Plakat hoch, um auf die schlechte Versorgung von ME/CFS-Kranken hinzuweisen.

Was möchten Sie den Erkrankten und Angehörigen noch sagen?

Wir kämpfen weiter! Wir lassen euch nicht im Stich!

Gritt Buggenhagen ist Vorsitzende des Vereins ME-Hilfe (me-hilfe.de) und Leiterin der Initia­tive #liegenddemo (instagram.com/liegenddemo)

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