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Aus: Ausgabe vom 02.05.2024, Seite 11 / Feuilleton
Nachruf

Rauchen im Späti

Alexander eroberte die Welt, und dann? Zum Tod des US-Schriftstellers Paul Auster
Von René Hamann
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Ein Buch ist nur ein Schritt auf dem Weg zum nächsten Buch: Paul Auster (1947–2024)

Newark spielte kaum eine Rolle. Paul Auster wurde dort geboren, aber gelebt hat er, nach Ausflügen unter anderem gen Paris, in New York. Der Autor war ein typischer New Yorker, einer, der die Stadt ein- und ausatmete, den Rauch, den Qualm, den Gestank, die Einsamkeit, die sie mit sich brachte, aber auch die Gesellschaft, die kleine, familiäre, wie die große, nicht minder familiäre, der Literatur- und Kunstwelt. Seine Romane spielten im wesentlichen dort. Die schönsten behandelten die Dunkelheit und Einsamkeit der Großstadt, sie erzählten von schrulligen Gestalten, Bibliothekserben, die sich durch Bücher fraßen und alles verkauften, um nur noch vom Lesen zu leben. Einsame Schriftsteller und Raucher, die mangels anderer Möglichkeiten anfingen, ihre Bücher als Paper-Reserven zu gebrauchen und wegzurauchen. Er erzählte von Spuren und Zufällen, wechselnden Identitäten und skurrilen Schicksalen. Paul Auster war postmoderne Romantik.

Ein echter Nobelpreisfavorit wurde er nie, im Gegensatz zu seinem älteren Kontrahenten Philip Roth, mit dem er nicht nur das jüdische Herkommen und die Liebe zum Ballsport (vor allem zum Baseball), sondern auch die Geburtsstadt, Newark eben, teilte. Einen Grund für das Übergangenwordensein in Stockholm gab es eigentlich nicht, denn Kandidatenmaterial hatte er zur Genüge. Er schrieb alles: begann mit Lyrik, versuchte es mit Film, Theater, später mit vielen Essays, am Ende schrieb er eine dicke Künstlerbiographie über den weithin vergessenen Stephen Crane. Das Wesentliche waren seine Romane, die insbesondere hierzulande verschlungen wurden wie etwas später nur noch die von Haruki Murakami: brillant erzählter Lesestoff, Pageturner ohne Schuldgefühle, nah am Leben und immer etwas surreal.

Für die allerhöchsten Ehren waren seine Romane vielleicht eine Spur zu unterhaltsam, zu düster, trotz aller postmodernen Drehungen und Wendungen. Das Wort »postmodern« fiel und fällt oft im Zusammenhang mit seinem Namen, aber auch das nicht immer zu recht – Austers Bücher sind zu nah an plotorientierten, spannungsgeladenen Romanen wie denen des düsteren Weltenbauers Stephen King oder ähnlich niedlich-verspielt und mit einer gesunden Dosis Melancholie aufgeladen wie die von eben Murakami. Und es erschienen einfach auch zu viele von ihnen.

Damit ist schon einiges gesagt über Paul Auster als Schriftsteller: Er hatte und zeigte viel. Allerdings mied er lange die Extreme. Politisch im europäischen Sinne linksliberal (er selbst charakterisierte seine Ansichten als »far to the left of the Democratic ­Party«), irgendwie bei den Studentenunruhen 1968 dabei, worauf er im Grunde erst im späten Opus magnum »4 3 2 1« (2017) umfassend einging, war er nie ein explizit politischer Autor. Nicht ohne Grund fiel die Hauptzeit seines Schaffens und Wirkens in die 90er Jahre: Nach den Erfolgen mit der »New-York-Trilogie« (1985–1987) suchte er die Nähe zum Film, schrieb Drehbücher, führte schließlich auch selbst Regie, in »Blue in the Face«, dem Spin-off seines von Wayne Wang verfilmten Drehbuchs »Smoke« (beide 1995).

Und da standen sie dann in einer Art Brooklyner Späti und erzählen von sich und dem Leben, Harvey Keitel, Lou Reed, Madonna, Michael J. Fox, Jim Jarmusch. Und rauchten.

Auster war zweimal verheiratet, ­beide Male mit bedeutenden Schriftstellerinnen, wobei die erste, Lydia Davis, erst in den vergangenen Jahren größere Wertschätzung erfuhr, während Auster mit der zweiten, Siri Hustvedt, fast so etwas wie eine Promiehe führte. Hustvedt kam knapp mit dem Leben davon, als Auster am Steuer einen Unfall verursachte. Sein Sohn aus erster Ehe, Daniel, vagierte in der Halbwelt und starb 2022 an einer Überdosis Heroin, wenige ­Monate, nachdem er beschuldigt worden war, für den Tod seiner zehn Monate alten Tochter verantwortlich zu sein.

Frei von Schicksalsschlägen und großen Schatten war das Leben des prominenten New Yorker Intellektuellenpaars also nicht, was Auster in seinem biographischen Spätwerk auch freimütig darlegte. Zum Ende hin wurde er sowieso deutlicher, nicht nur in seinen Büchern. Er positionierte sich vehement gegen Präsident Donald Trump, kritisierte die schlingernde Coronapolitik der Republikaner und prangerte die zunehmende Spaltung der US-Gesellschaft an. Auster wurde das, was er lange nicht hatte werden wollte: ein streitbarer Vorzeigeintellektueller mit öffentlicher Meinung. Er blieb bis zuletzt fleißig, »so wie ein Buch nur ein Schritt auf dem Weg zum nächsten Buch war, ein Leben lang Bücher und immer mehr Bücher, was dieselbe Konzentration und Zielstrebigkeit erforderte, die ein Geschäftsmann brauchte, um reich zu werden. Alexander der Große erobert die Welt, und dann was? Er baut eine Rakete und marschiert auf dem Mars ein«, wie er seinen Antrieb in »4 3 2 1« beschreibt.

Am Ende waren es vielleicht auch zu viele Seiten, wie es zu viele Zigaretten waren im Leben des New Yorkers. Er kämpfte mit Lungenkrebs. Nun ist er am 30. April in New York im Alter von 77 Jahren gestorben.

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