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Aus: Ausgabe vom 02.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Oper

Keine Termine und leicht einen sitzen

Plötzlich Persönlichkeit: Benjamin Brittens »Albert Herring« in Halle
Von Kai Köhler
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Das Komödiantische kommt nicht zu kurz: So wild treibt es Loxford

Gesucht wird die »Maikönigin«: ein reines Mädel, das der verderbten Kleinstadt Loxford zum sittlichen Vorbild dienen kann. Doch keine der Kandidatinnen überzeugt die herrschende Lady ­Billow. Alle wurden bereits bei einem Flirt, wenn nicht gar bei Verdächtigerem ertappt. Als letzter Ausweg bietet sich an, die Tradition abzuwandeln und einen »Maikönig« zu krönen: Albert Herring, der als Gehilfe im Laden seiner Mutter arbeitet und als so dümmlich wie folgsam gilt.

Am Anfang steht ein propagandistischer Missbrauch. Am Ende durchschaut Albert die Sache, verprellt die Honoratioren und klärt auch, dass die Mutter ihn nicht weiter als unbezahlte Hilfskraft einsetzen kann. Dazu trägt sein Freund, der Metzgerbursche Sid, ebenso bei wie dessen Geliebte ­Nancy: Die beiden wecken Alberts Interesse am Sinnlichen, durch ihr Vorbild wie auch durch Manipulation. Bei der Preisverleihung kippen sie in Alberts Limonade heimlich Alkohol.

Wie in vielen seiner Opern verlangt Britten nur ein Kammerorchester. Hier entfalten solistische Streicher, ­viele Bläserstimmen, eine vielbeschäftigte Harfe und genau ausgewähltes Schlagwerk äußerst durchhörbare und sehr farbige Klänge; Yonatan Cohen als Dirigent vermittelt in der aktuellen Inszenierung der Oper ­Halle den Reichtum der vielschichtigen Partitur. Hier gibt es durchaus unmittelbaren Ausdruck. An anderen Stellen jedoch zitiert Britten Ausdruckscharaktere, um damit soziale Positionen zu bezeichnen. Ebenso verfährt er mit Formen und Genres, von der barockisierenden Fuge bis zum Chanson. Parodistisch ist die Verwendung von Zitaten. Wenn etwa Albert die mit Rum versetzte Limonade in sich hineinkippt, erklingt das Sehnsuchtsmotiv aus Wagners »Tristan und Isolde«, wo, ganz äußerlich betrachtet, ein Zaubertrank das Paar zur Liebe verführt. Doch hier wie dort bringt das Getränk nur Wünsche an die Oberfläche, die bereits vorher da waren. Britten denunziert das Zitierte nicht, sondern greift es für den eigenen Zusammenhang auf.

»Albert Herring« wurde 1947 uraufgeführt und bald an zahlreichen Bühnen nachgespielt. Heute hört man das Werk eher selten. Der Grund ist klar. Es geht zwar, wie meist in Brittens Bühnenwerken, um das Verhältnis eines Außenseiters zur Gesellschaft. Doch ist die Komödie zeitgebundener als das Tragische, Elegische usw. Zu verlachen lohnt vor allem ein gegenwärtiger Feind. Die Oper Halle hat für diese Produktion mit dem Teatr Wielki Stanisław Moniuszko Poznań zusammengearbeitet, und im bis vor kurzem von der nationalkatholischen PIS beherrschten Polen dürfte die Sexualmoral durchaus skandalträchtig sein. Wie aber überträgt man das auf deutsche Verhältnisse?

Zwar ist Moral hierzulande keinesfalls verschwunden. Nur geht es nicht mehr darum, wer wen geküsst hat, sondern es wird gefragt, wer seinen Körper für die kapitalistische Verwertung fit hält und sich ethisch vertretbar ernährt. Saufen und völlern – diese aktuellen Sünden werden in Halle durch Videoeinblendungen immerhin angedeutet. Übertragbar ist Albert Herrings Entwicklung von einem bloßen Mittel der Propaganda zu einer Person, die eigene Zwecke setzt. Regisseurin Karolina Sofulak gestaltet diese Geschichte, indem sie die Figuren ernst nimmt, auch die negativ gezeichneten, und ihnen individuelle Konturen verleiht. Das wird gestützt durch ein bis in die kleineren Rollen hervorragendes Gesangsensemble. Robert Sellier wird dabei in der Titelrolle die größte Wandlungsfähigkeit abverlangt, von der schüchternen Zurückhaltung am Anfang bis zur Selbstsicherheit im Finale. Andreas Beinhauer gibt dem Freund Sid das unbekümmert Brutale, das den verführerischen Reiz dieses Mannes ausmacht, aber auch nachdenklichere Momente. Die von Rosamond Thomas gesungene Nancy ist bereits bei Britten fürs Gefühl zuständig und setzt in Halle einen überzeugenden Kontrapunkt gegen die herrschende Clique. Anke Berndt macht die Härte hörbar, mit der Lady Billows die Loxforder Honoratioren an der Kandare hält. Von denen ist hervorzuheben die von Linda van Coppenhagen gesungene Schulvorsteherin, deren Gefühle sich als Affektiertheit äußern.

Dies Überkandidelte wiederum erweist sich in Sofulaks Inszenierung als Resultat verdrängter Wünsche. Dass die eifrigsten Tugendwächter die regsamsten Phantasien haben und bisweilen auch ausleben, ist kein neuer Gedanke; auf der Hallenser Bühne wird er unterhaltsam vermittelt. Sofulak vernachlässigt das Komödiantische nicht: Mit weiß geschminkten Gesichtern und zeichenhaften Accessoires versehen, sind die Figuren dem Comic angenähert. Die Individuen stehen stets auch für Sozialtypen; hier vor allem jene auf der Seite der Herrschenden. Dies ermöglicht das Überdrehte, Satirische, das durchaus im Einklang mit Passagen der Komposition steht. Der »Albert Herring« in Halle ist bei aller Fülle der Einfälle eine Inszenierung nahe an der Musik, und auch dies macht das so Lehrreiche wie Vergnügliche des Abends aus.

Nächste Vorstellungen: 3., 9. und 18. Mai

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