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Aus: Ausgabe vom 30.04.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
1. Mai in Argentinien

Die argentinische Lektion

Massenmobilisierungen gegen Regierung von Javier Milei: Durch Kirchnerismus geschwächte Linke muss Initiative ergreifen
Von Santiago Stavale, Buenos Aires
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Seit einigen Monaten entlädt sich der Zorn über Mileis »Reformen« in wütenden Protesten gegen die Regierung

Der Monat Mai hat in Argentinien historische Bedeutung. Neben der Erinnerung an die Unabhängigkeit vom 25. Mai 1810, steht er für viele wichtige Arbeiterkämpfe. Es ist deshalb kein Zufall, dass die rechte Regierung von Javier Milei einen »Pakt des 25. Mai« auf den Weg bringen will, um das Land auf einer neoliberalen, neokolonialen und ultrareaktionären Grundlage neu aufzustellen. Für die Arbeiterklasse ist eine sogenannte Arbeitsreform vorgesehen, die weitere Flexibilisierung verspricht, Übergriffe der Bosse und Kapitalisten schützt und das Streikrecht praktisch außer Kraft setzt. Die Reform und der gewählte Termin sind ebenso provokant, wie das Projekt gewagt und die Möglichkeit seines Erfolgs konkret ist. Denn trotz der bereits drastischen Folgen der Regierungspolitik – in nur drei Monaten sind die Reallöhne um 19 Prozent gesunken –, genießt Mileis Kabinett laut Umfragen weiterhin große Unterstützung der Bevölkerung. Wie ist diese paradoxe Entwicklung zu verstehen?

Flucht ins Parlament

Milei gelang es, die Wut und Empörung der Bevölkerung über Verarmung, Vernachlässigung und Ungleichheit zu kanalisieren, die von verschiedenen Regierungen über Jahre vertieft worden waren. Die insbesondere durch die Coronapandemie verschärfte politische, soziale und wirtschaftliche Krise hat zu Überdruss, Wut, Resignation und Ressentiments geführt. Der krisengeschüttelte Kapitalismus in Verbindung mit der Ineffizienz einer peronistischen Regierung mit ihrer fortschrittlichen Rhetorik und ihrem Mantra der sozialen Gerechtigkeit hinterließ ein Land mit einer Armutsquote von mehr als 40 Prozent. Dabei hatte sie versprochen, die Verwerfungen der rechten Regierung von Mauricio Macri rückgängig zu machen, indem sie »denen da unten« Priorität einräume.

Der Peronismus, in 16 der vergangenen 20 Jahre in Form des Kirchnerismus an der Regierung, trägt für die unerträgliche Realität einen Großteil der Verantwortung. Er hat sich als eine der fortschrittlichen Regierungen in Lateinamerika präsentiert – und sein Epos auf einer allgemein mit der Linken indentifizierten Rhetorik aufgebaut. Große Teile der Linken, darunter die Partido Comunista de Argentina (PCdA), die maoistische Revolutionäre Kommunistische Partei (Partido Comunista Revolucionario, PCR) und die »neue linke« Frente Patria Grande haben sich den Regierungen angeschlossen und revolutionäre Perspektiven zugunsten der Verwaltung des kapitalistischen Staates aufgegeben. Indem sie das Schreckgespenst der Rechten heraufbeschworen, rechtfertigten sie paradoxerweise ihre eigene Entwicklung nach rechts. Auch die unabhängigen Sektoren, die trotzkistischen Parteien der Linken- und Arbeiterfront (Frente de Izquierda y Trabajadores, FIT) haben sich inzwischen entweder in die parlamentarische Politik geflüchtet oder sind zu Gruppen mit einer gewissen sozialen Reichweite, aber wenig politischem Einfluss geschrumpft.

Reaktionäre Utopie

So ging sowohl politischer Raum als auch strategische Perspektive verloren. Die Linke wurde Opfer ihrer (realen oder fiktiven) Verbindungen zum Kirchnerismus und beschuldigt, ein Teil des Problems zu sein – als mögliche und wünschenswerte Lösung war sie diskreditiert. So war der Boden bereitet für eine lineare und höchst effektive Argumentation: Das Problem sei die politische Kaste des Kirchnerismus, dieser sei die Linke, diese der Staat und dieser verantwortlich für Elend, Korruption und Systemkrise. Die Gleichung wurde auf den Kopf gestellt, die extreme Rechte zum einzigen radikalen und »antisystemischen« Angebot für diejenigen in der Masse der Bevölkerung, die einen radikalen Wandel forderten.

Milei konnte die Wahl gewinnen, da er eine reaktionäre Utopie vorlegte und sich als entschlossen genug darstellte, diese bis zur letzten Konsequenz umzusetzen. Die Geduld, die ein beträchtlicher Teil der arbeitenden Bevölkerung derzeit an den Tag legt, kann also durch die Erwartung einer anderen Zukunft erkärt werden, genährt von der »Kohärenz« einer Persönlichkeit, die tut, was sie versprochen hat. Für die Linke bedeutet dies eine wertvolle Lektion: Nehmen die Massen die Hoffnung auf eine radikal andere Welt erwartungsvoll an, so sind sie bereit, große Opfer dafür zu bringen.

Kräfte messen

Auch heute ist die Linke daran gewöhnt, zu hören, dass für bestimmte Diskussionen, bestimmte Einzelkämpfe oder bestimmte Kampfformen kein günstiges Kräfteverhältnis bestehe. Doch diese Erzählung hat die Situation mit hervorgebracht: Das Kräfteverhältnis diente als Vorwand, uns zum Rückzug zu zwingen, in die Defensive zu drängen, uns die Initiative zu nehmen. Die Analyse der Verhältnisse kann aber kein Selbstzweck sein, sondern muss dem Aufbau einer organisierten, vorbereiteten und kämpferischen Kraft dienen, wie Antonio Gramsci feststellte. Die Linke sollte nicht versuchen, ihre Trägheit mit abenteuerlichen Initiativen zu durchbrechen oder zu versuchen, diese Wechselwirkung zu ändern, indem sie die objektiven Bedingungen ignoriert. Doch klar ist auch, dass sich die objektiven Bedingungen ohne organisierten Willen und Mut nicht verändern lassen.

Der April war ein Monat voller Konflikte und Kämpfe sowie der größten Hochschulmobilisierung der Geschichte. Der Mai wird als Monat weiterer Auseinandersetzungen Gelegenheit geben, Kräfte zu messen. Die CGT-Gewerkschaftsführer waren, trotz aller Verhandlungsversuche mit der Regierung, durch den Druck der Basis auf der Straße und in den Betrieben gezwungen, Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen: An diesem 1. Mai wird eine große Demonstration erwartet, für den 9. Mai ist ein Generalstreik angekündigt. Die argentinische Volksbewegung zeigt, dass sie über bedeutende Reserven verfügt. Die Linke steht nun vor der Herausforderung, diese zu vergrößern, indem sie die Initiative ergreift, um die reaktionäre Offensive zurückzuschlagen und die Kämpfe mit einer antikapitalistischen Perspektive und einer Utopie am Horizont zu politisieren. Anknüpfend an den revolutionären Geist, der die Märtyrer von Chicago und die internationale Arbeiterbewegung inspirierte, muss dieser 1. Mai als Gelegenheit genutzt werden, wieder die Initiative zu ergreifen und die versöhnliche Politik aufzugeben.

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