4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 25.04.2024, Seite 12 / Thema
Portugal

Revolution der Nelken

Portugal: Heute vor 50 Jahren stürzten junge Offiziere die älteste Diktatur Europas. Erinnerungen an ein Land im Umbruch
Von John Green
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Einheit zwischen dem Volk und den Streitkräften – begeisterte Massen in den Straßen Lissabons (25.4.1974)

Am 25. April vor 50 Jahren wurde Portugal von einem Erdbeben erschüttert. Es war kein geologisches Erdbeben wie das von 1755, das die Hauptstadt Lissabon dem Erdboden gleichmachte und etwa 50.000 Menschen tötete. Es war ein politisches Erdbeben, und es gab nur vier Opfer, die von der faschistischen Geheimpolizei erschossen wurden. Es ging als Schockwelle um die Welt: Portugals 41 Jahre alte Diktatur, die älteste in Europa, war in nur 24 Stunden gestürzt worden. Das Regime von Diktator António de Oliveira Salazar und dessen Nachfolger Marcelo Caetano hatte ein Ende gefunden.

Ich arbeitete damals für das DDR-Fernsehen und wurde entsandt, um über die Ereignisse zu berichten. Mein Kollege und ich landeten am Morgen des 27. April auf dem Flughafen von Lissabon, packten sofort unsere Kamera aus und begannen zu filmen. Von da an legten wir die Filmkamera kaum noch aus der Hand. Schon auf dem Flughafen herrschte eine aufgeladene Stimmung: Große Gruppen von Menschen warteten auf die Ankunft ihrer Angehörigen, die von der Diktatur ins Exil getrieben worden waren. Es gab Umarmungen, Lachen und Freudentränen.

Das Zentrum Lissabons war überschwemmt mit Blumen, jubelnde Gruppen an jeder Straßenecke. Soldaten und Matrosen standen vor offiziellen Gebäuden Wache, nicht bedrohlich, sondern lässig und entspannt, rote Nelken am Revers oder in den Läufen ihrer Gewehre. Sie wurden ständig von Bürgern umarmt, die sie mit Blumen und Küssen, Getränken und Essen überschütteten. Ich habe noch nie eine Armee gesehen, die so sehr mit dem Volk verschmolzen war. Ein junger Wehrpflichtiger sagte uns: »Ja, wir haben jetzt eine Einheit zwischen dem Volk und den Streitkräften, und wir müssen dafür sorgen, dass diese Einheit nicht zerstört wird.«

Einheit und Brüderlichkeit

Jede Straßenecke, jedes Büro und jede Fabrik wurde zu einem Bienenstock der revolutionären Aktivität. Politische Gefangene, von denen einige jahrelang in den berüchtigten Gefängnissen in Caxias und Peniche gesessen hatten, wurden in die Arme ihrer überglücklichen Familien entlassen. Das Hauptquartier der Geheimpolizei, die Radiosender und die Regierungsgebäude befanden sich in den Händen der aufständischen Soldaten, Gewerkschaften wurden wiedergegründet, Wohnungsgenossenschaften und Anwohnerkomitees ins Leben gerufen. Politische Parteien schossen wie Pilze aus dem Boden. Ich spürte instinktiv die Parallelen zur bolschewistischen Revolution von 1917, die John Reed in »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« beschrieben hat. Hier waren es ebenfalls junge Soldaten und Matrosen aus der Arbeiterklasse oder aus dem Bauernstand, die die Macht übernommen hatten.

Es gärte und es gab emotionsgeladene Debatten in verrauchten Räumen, das Hin- und Herhetzen mit Nachrichten und Anweisungen, Mahnwachen vor wichtigen Gebäuden – scheinbares Chaos, aber in Wirklichkeit eine neue, von den Bürgern selbst installierte Ordnung, durchdrungen von dem unbeschreiblichen Gefühl, aus einer tiefen, dunklen Grube in das strahlende Licht der Freiheit aufzutauchen. Es herrschte ein spürbares Gefühl der Einheit und Brüderlichkeit, der nationalen Würde, und alle feierten gemeinsam.

Natürlich ist eine solche euphorische Stimmung zu erwarten, wenn ein unterdrückerisches Regime gestürzt wird – alle fühlen sich in ihrer neu gewonnenen Freiheit vereint und freuen sich über den Sieg. Erst später, wenn die eigentliche Debatte über das weitere Vorgehen und mögliche Lösungen beginnt, treten die Differenzen zutage. Aber in diesen ersten Tagen waren solche Vorahnungen noch weit entfernt.

Einer der ersten Orte, an denen wir filmten, war das ehemalige Hauptquartier der PIDE, der Geheimpolizei. Die Marinewachen am Haupttor brachten uns zu dem verantwortlichen Offizier, der uns filmen ließ, was wir wollten. Es gab keine Bürokratie und keinen Wunsch, Dinge zu verbergen.

Das ganze Gebäude befand sich noch immer im selben Zustand wie an jenem denkwürdigen 25. April. Die Papiere lagen auf dem Boden verstreut, die Schubladen waren offen, so wie sie es waren, als alle in großer Eile das Gebäude verließen. Silva Pais, der Sicherheitschef, hatte sich ebenfalls in großer Eile auf den Weg gemacht. Auf dem schweren Eichenschreibtisch in seinem holzgetäfelten Büro lag sein Tagebuch geöffnet, die losen Papiere wurden von einem riesigen Gipspenis festgehalten, eine halb ausgetrunkene Flasche Johnny Walker stand neben zwei schmutzigen Gläsern. Im Bücherregal hinter dem Schreibtisch stand eine Auswahl von Büchern, darunter – vielleicht überraschend – Régis Debray über Che Guevara, Wälzer über die Geschichte der UdSSR, den Kommunismus in Afrika, die Autobiographie von Fulgencio Batista, mehrere Bücher über Kuba und über den Nazifaschismus, eines über Karate und ein Waffenkatalog. Unser Offiziersführer zeigte uns eine in seinen Schreibtisch eingelassene Nische, in der ein Mikrofon und ein Kassettenrekorder versteckt waren. Dann führte er uns in die Büros, in denen die Akten der Regimegegner, der vielen linken, fortschrittlichen oder einfach verdächtigen Personen aufbewahrt wurden. Wir entdeckten die Akte von Álvaro Cunhal, dem Generalsekretär der Portugiesischen Kommunistischen Partei und auch die unseres Dolmetschers, eines jungen Journalisten, der in London im Exil lebte und für den BBC World Service arbeitete. Es gab Stapel von gefälschten Studentenausweisen, eine Reihe von Pässen, hauptsächlich französische, Polizeifotos und eine Kinderdruckerei, die wahrscheinlich dazu benutzt worden war, Flugblätter zu fälschen, um unschuldige Opfer zu belasten.

Zurück in der Legalität

Wir gehen zu Versammlungen und Treffen an so vielen Orten, dass uns der Kopf schwirrt. In Barreiro, dem »roten Vorort« von Lissabon, werden wir Zeuge der Eröffnung der ersten legalen Büros der Kommunistischen Partei und des ersten Treffens der örtlichen Genossen, die sich immer noch nicht ganz an den Gedanken gewöhnen können, dass sie nun nichts mehr zu befürchten haben und offen mit uns sprechen können.

Ein älterer Genosse, der in der örtlichen CUF-Stahlfabrik arbeitet (die Companhia União Fabril ist einer der größten und vielseitigsten portugiesischen Mischkonzerne), besteht darauf, uns in seine kleine Werkswohnung einzuladen. In dem spartanisch eingerichteten Raum nimmt er ein verstaubtes Buch aus einem hohen Regal und zeigt es uns stolz – eine Ausgabe von Marx’ »Kapital«. Er erklärt uns, dass er es fast 40 Jahre lang versteckt gehalten hat.

Ein paar Monate später hängen in derselben Fabrik überall kommunistische Plakate, und eine Gruppe von Arbeitern fährt stolz einen Gabelstapler vor die Fabrikhalle, damit wir ihn filmen können: Er ist mit revolutionären Slogans beklebt und trägt den Namen »V. I. Lenin«. Rufe wie »PCP, PCP« ertönen aus dem ganzen Werk, geballte Fäuste werden in die Luft gereckt. In der riesigen Schiffsreparaturwerft von Lisnave sieht es ähnlich aus. Hier herrscht eine ansteckende Euphorie.

Eine Gruppe junger Offiziere, die von Anfang an eng in die Revolution eingebunden war – und es waren vor allem jüngere Offiziere mittleren Ranges, die sie angeführt haben –, laden uns in ihre Kaserne ein, um mit einigen derjenigen zu sprechen, die am Putsch beteiligt waren. Es war eine Delegation der Escola Prática de Cavalaria, der Kavallerieschule in Santarém, die eine der ersten Kolonnen nach Lissabon führte. Das endgültige Signal für den Beginn der Revolution war ein Lied des populären portugiesischen Sängers José Afonso, das über eine private Radiostation gesendet wurde. Sein Lied »Grândola, Vila Morena« beschwor Bilder von Portugal und seinem Volk herauf. Als dieses Lied um Mitternacht über den Äther ging, starteten die Offiziere der Schule die Motoren ihrer alten, gepanzerten Autos und Jeeps und fuhren in das etwa 20 Kilometer entfernte Zentrum von Lissabon. Die Aktion wäre beinahe gescheitert, weil eines der Fahrzeuge, das die Kolonne anführte, so alt war, dass es unterwegs eine Panne hatte, aber es gelang ihnen, es rechtzeitig zu reparieren.

Sie erzählten uns, wie nervös sie waren und unsicher, ob der Coup gelingen würde. Das Ganze musste so geheim geplant werden, dass nur wenige Offiziere davon wussten und niemand sicher sein konnte, inwieweit andere Regimenter sie unterstützen würden. Es ist erstaunlich, wie kleine Gruppen von Soldaten wie diese mit ihren veralteten Fahrzeugen dennoch in der Lage waren, die demoralisierten Kräfte der Diktatur zu erschrecken und zu zerstreuen. »Wir hatten die strikte Anweisung, das Feuer nur im äußersten Notfall zu eröffnen«, erzählt ein Major, »wir wollten um jeden Preis Blutvergießen vermeiden, also sprachen wir mit den nicht engagierten Truppen und versuchten, sie auf unsere Seite zu ziehen. Das ist uns auch gelungen. Nur ein oder zwei hochrangige Offiziere weigerten sich, sich uns anzuschließen, und wurden verhaftet.« Es war eine völlig unblutige Revolution.

Die meisten Soldaten hatten genug von dem zermürbenden Krieg in den Kolonien, der ohnehin zum Scheitern verurteilt war und die letzten Ressourcen des Landes verschlang. In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten standen die nicht an eine zivile Verwaltung gewohnten Soldaten vor der gewaltigen Aufgabe, neue Strukturen für die Regierung des Landes zu schaffen.

Die Kommunistische Partei war die einzige Partei im Land, die während der gesamten Diktatur unter großen Opfern und Kosten vor Ort bestanden hatte. Vor den ersten Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im April 1975 betonte die Partei, dass ihre 247 Kandidaten zusammen 440 Jahre hinter Gittern verbracht hatten. Die Partei war zu diesem Zeitpunkt die am besten organisierte politische Kraft und nahm eine führende Rolle ein. Bei der 1.- Mai-Kundgebung nach dem Putsch in Lissabon erinnerte die Atmosphäre an die Szenen in den befreiten Ländern am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Álvaro Cunhal, der Kommunistenführer, war gerade aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt und stand neben Mário Soares, dem aus Paris zurückgekehrten Sozialistenführer, Schulter an Schulter mit Soldaten der MFA (Bewegung der bewaffneten Streitkräfte) und sie sprachen zu den Tausenden von Bürgern, die sich dort versammelt hatten.

Dämonisierung und Spaltung

Das Ziel der Kommunistischen Partei war es, eine nationale Übergangskoalition demokratischer Kräfte zu bilden, die das Land an der Seite der MFA regieren sollte, aber es dauerte nicht lange, bis parteipolitische Streitigkeiten und Auseinandersetzungen dieses Ziel untergruben. Führende westliche Staaten waren entsetzt von der Vorstellung, dass Portugal, ein NATO-Gründungsmitglied, sozialistisch werden könnte – unter der Caetano-Diktatur war das Land treues Mitglied des westlichen Militärpaktes gewesen, und dessen südatlantisches Hauptquartier befand sich im portugiesischen Oeiras nahe Lissabon. Diese Kräfte setzten alles daran, die Kommunistische Partei zu dämonisieren und zu isolieren, um sie von der Macht fernzuhalten, und finanzierten andere Parteien, insbesondere die Sozialistische Partei, um sie an den Rand zu drängen.

Die Sozialistische Partei (der PS) von Mário Soares war erst im Jahr zuvor in der Bundesrepublik gegründet worden. Die westdeutschen Sozialdemokraten ließen der Partei über die Friedrich-Ebert-Stiftung beträchtliche Finanzmittel zukommen, und Willy Brandt wurde zu ihrer Unterstützung und Beratung nach Lissabon entsandt, wie auch François Mitterrand aus Paris und der Führer der Labour Party James Callaghan aus London. Der PS war zu dieser Zeit recht klein und unbedeutend, stellte aber für viele eine schmackhaftere Alternative zu den Kommunisten dar, die als Handlanger Moskaus bezeichnet wurden.

Obwohl Soares den Menschen einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« anbot und die Lautsprecherwagen des PS, aus denen »Die Internationale« dröhnte, durch die Wahlkreise fuhren, gab seine Partei, als sie an die Macht kam, den Menschen nur eine Dosis der gleichen Art von wirtschaftlicher Sparmedizin, die sie schon seit Jahrzehnten hatten schlucken müssen.

Aus den ersten freien, verfassungsmäßigen Wahlen 1975 ging der PS als stärkste Kraft hervor. Obwohl viele der besten Sänger, Musiker, Schriftsteller und anderen Kulturschaffenden Portugals entweder der Kommunistischen Partei angehörten oder mit ihr sympathisierten, begann nun eine Hexenjagd auf Kommunisten in offiziellen und administrativen Positionen. Sie loszuwerden bedeutete, viele kulturelle Organisationen zu unterminieren.

Die wichtigsten Stützpunkte der portugiesischen Kommunisten befanden sich, abgesehen von den Industriezentren in und um Lissabon, im Alentejo, dem breiten Landstrich südlich des Flusses Tejo. Dort besaßen einige wenige Großgrundbesitzer riesige Ländereien und beschäftigten Tausende von Landarbeitern, oft auf saisonaler Basis und zu Hungerlöhnen. Dieses Agrarproletariat war in Europa ungewöhnlich. In den Jahren des Faschismus wurde in der Region Alentejo ständig für die Grundrechte gekämpft, oft in Form von erbitterten Kämpfen zwischen den Arbeitern und der Nationalgarde.

Neue Genossenschaften

Fährt man von Lissabon aus nach Süden, überquert man die wirbelnden, schlammigen Wasser des Tejo, durchquert die fruchtbaren Schwemmlandebenen, vorbei an der Stadt Grândola, die dem Lied der Revolution seinen Namen gab, erreicht man die Regionalhauptstadt Beja im Herzen des Alentejo. Da die meisten Großgrundbesitzer abwesend oder nach der Revolution geflohen waren, hatten die Arbeiter auf einigen von ihnen den Betrieb übernommen und Genossenschaften gegründet.

Santa Vitoria ist ein typisches Landgut, dessen Besitzer in Lissabon lebte. Es war das erste im Lande, das nach dem 25. April von den Landarbeitern übernommen und in eine Genossenschaft umgewandelt wurde. Ihr Vorsitzender, Antonio Merêncio, führt uns herum. Hier im Alentejo arbeiten Männer und Frauen nebeneinander auf den Feldern und pflanzen für eine neue Ernte. Zwei Einkommen sind für das Überleben der Familien unerlässlich. Frauen machen einen großen Teil der Arbeitskräfte aus, und es gibt keine geschlechtsspezifische Rollentrennung. Auch sie kleiden sich wie die Männer, mit dunklen Filzhüten über bunten Kopftüchern, kurzen schwarzen, glockenförmigen Röcken über weiten Hosen. Ihre Kleidung ist nicht nur praktisch, weil sie sie bei der Arbeit auf dem Feld vor der brennenden Sonne schützt, sondern auch symbolisch, denn sie unterstreicht ihre Gleichheit mit den Männern und ihren proletarischen Status. In der Tat haben Frauen in den vergangenen Kämpfen eine führende Rolle gespielt, und mehrere wurden von der faschistischen Polizei getötet. Die Besitzer dieses Landguts stellten die meisten Arbeiter zur Erntezeit an, entließen viele von ihnen aber in den Wintermonaten. Die Besitzer waren so knauserig, erzählen uns die Arbeiter, dass sie ihnen sogar verboten, Trinkwasser aus dem Brunnen des Gutes zu schöpfen, eine harte Maßnahme in einem heißen Land. Wir sind beeindruckt von der scheinbar reibungslosen Organisation der Kooperative, ihrer demokratischen Struktur und ihren Idealen. Hier sind es halbgebildete Landarbeiter mit wenig oder gar keiner Verwaltungserfahrung, die zum ersten Mal ihr eigenes Unternehmen in echter kollektiver Verantwortung führen.

In den ersten Jahren nach dem revolutionären Sturz der Diktatur wurden viele solcher Genossenschaften von den Arbeitern gegründet, aber sie erhielten keinerlei Unterstützung von der Regierung, und schon bald wurden sie unter der sogenannten sozialistischen Regierung von Soares aufgelöst und an ihre früheren Eigentümer zurückgegeben.

Viele führende Gewerkschafter und Kommunisten hatten lange Jahre in den unmenschlichen Gefängnissen Portugals verbracht. Einer von ihnen war António Dias Lourenço, der Herausgeber der Avante, der Tageszeitung der Kommunistischen Partei. Er war in der 1557 errichteten Festung in Peniche an der kalten und windigen Atlantikküste inhaftiert. Peniche ist ein typisch portugiesisches Fischerstädtchen mit weißgetünchten Häusern, von Orangenbäumen gesäumten engen Gassen, einem großen offenen Marktplatz und malerischen Hafen, in dem die bunt bemalten hölzernen Fischerboote sanft im Wasser schaukeln. Die Festung beherrscht den Hauptplatz, wo die Frauen der Fischer tagsüber sitzen und die Netze für die abendlichen Ausfahrten reparieren. Aus diesem abweisenden, feuchten, steinernen Gefängnis, das ständig von der rauen Atlantikbrandung gebeutelt wird, gelang Dias Lourenço in den 1960er Jahren die Flucht, indem er an einem kalten Dezembertag von den Zinnen ins Meer sprang.

Er kehrte mit uns zurück, um uns zu zeigen, wo er gefangengehalten wurde, und um die Geschichte seiner Flucht zu erzählen. Das Gefängnis befand sich nun in den sicheren Händen der revolutionären Offiziere der MFA. Jetzt saßen in den Zellen ehemalige Offiziere der faschistischen Geheimdienste, die unter sehr liberalen Bedingungen festgehalten wurden.

Die meisten der führenden Kommunisten, darunter ihr legendärer Anführer Álvaro Cunhal, waren in Peniche inhaftiert. Auch Cunhal gelang zusammen mit einer kleinen Gruppe von Genossen am 3. Januar 1960 eine spektakuläre Flucht, indem sie ihren Wärter mit Chloroform betäubten und an einem Seil, das sie eingeschmuggelt hatten, über die Außenmauer kletterten.

Es war typisch für diese Männer, dass sie äußerst zurückhaltend waren, wenn es darum ging, von ihren persönlichen Heldentaten zu berichten. Unser Dolmetscher Carlos Placido de Souza war da keine Ausnahme. Er war ein schüchterner, eher zurückhaltender ehemaliger Biochemiker, der hinter einem Schreibtisch in einem großen Regierungsbüro oder einer Bank nicht fehl am Platz gewirkt hätte. Wir wussten, dass er ein Parteiaktivist gewesen und während der Diktatur nach Großbritannien geflohen war, aber erst, nachdem wir die Dreharbeiten im Gefängnis beendet hatten, verriet er uns, dass er die Person war, die das Chloroform für Álvaro Cunhal besorgt und eines der Fluchtautos gefahren hatte.

Hoffnungen zerstört

Es ist allgemein bekannt, was aus der Aprilrevolution nach diesen ersten berauschenden Tagen geworden ist, aber nicht jeder ist mit den Einzelheiten vertraut. Wir kehrten in den ersten Jahren nach 1974 regelmäßig zurück und konnten dokumentieren, wie die großen Hoffnungen und das Potential für radikale Veränderungen schrittweise und systematisch zerstört wurden.

Da war die wirtschaftliche Sabotage durch die mächtigen kapitalistischen Nationen und Portugals eigene herrschende Klasse. Die USA ernannten einen neuen Botschafter, Frank Carlucci, der ihr Mann im Kongo gewesen war, als Lumumba ermordet wurde, und in Brasilien vor dem Militärputsch und der blutigen Unterdrückung der Demokratie dort. Er tat sein Bestes, um sicherzustellen, dass Portugal fest im kapitalistischen Lager blieb.

Die Sabotage war jedoch nicht nur friedlicher Natur: Eines Nachts wurden wir auf der zentralen Avenida Libertade aus den Betten geschüttelt, als vor dem Lissabonner Büro der PCP eine Autobombe explodierte. Wir lernten auch einen Schreiner in Rio Maior kennen, der Holzknüppel herstellte, um, wie er es anpries, »Kommunisten zu verprügeln«, und wir sahen, wie die Parteipolitiker begannen, die Menschen zu spalten, sie gegeneinander auszuspielen, Misstrauen zu säen und die Einigkeit jener frühen Tage zu zerstören.

Der PS von Mário Soares, der weithin als die einzige glaubwürdige Kraft gegen die Kommunisten angesehen wurde, wurde durch die Sozialistische Internationale und kapitalistische Kräfte finanziert und gefördert, die klar erkannt hatten, dass Soares’ »Sozialismus« ein Feigenblatt war. Die ultralinken Kräfte waren zwar klein, aber ebenfalls aktiv und störend, indem sie eine sofortige und umfassende sozialistische Umgestaltung forderten.

In den folgenden Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage des Landes, Ernüchterung machte sich breit, und die Kommunisten wurden schließlich aus der Übergangsregierung verdrängt. Soares wurde 1976 dank der Unterstützung der Kommunisten der erste frei gewählte Premierminister. Er amtierte zwei Jahre lang. Von 1983 und 1985 war er Präsident der Republik. Er führte ein Land, das immer noch fest im Kapitalismus verankert war und wirtschaftlich kaum besser dastand als in der Vergangenheit, obwohl es nun eine pluralistische und stabile Demokratie war.

Portugal zählt heute noch zu den ärmsten Ländern Europas. Die jüngsten Wahlen im März spiegeln die Spaltungen wider, die das Land immer noch plagen. Aber auch die Tatsache, dass die Kommunisten/Grünen und der Linksblock zusammen nur neun Sitze errungen haben, ist ein beunruhigendes Zeichen für die mangelnde Unterstützung der Linken. Noch besorgniserregender ist jedoch der Aufschwung der rechtspopulistischen Chega-Partei, die rechten Parteien in Italien, Frankreich und Deutschland nachfolgt.

John Green wuchs in Coventry, Großbritannien, auf und studierte in den 1960er Jahren an der Staatlichen Filmschule der DDR in Potsdam mit dem Schwerpunkt Kamera. Ab 1968 arbeitete er für das DDR-Fernsehen als Auslandskorrespondent.

Veranstaltungshinweis: Gespräch mit John Green: »Mein größtes Erlebnis war die Revolution in Portugal 1974«, Donnerstag, 25. April 2024, Maigalerie der jungen Welt, Torstraße 6, 10119 Berlin, 19:00 Uhr, Einlass ab 18 Uhr, Eintritt: 10 € (ermäßigt: 5 €). Um Anmeldung wird gebeten: 030/53 63 55 54 oder maigalerie@jungewelt.de

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