4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 20.04.2024, Seite 2 / Inland
Repressive Migrationspolitik

»Es gibt dazu keinerlei Belege oder Statistiken«

Bundesregierung will mit Bezahlkarte Anreize zur Flucht in EU bekämpfen. Pro Asyl widerspricht Argumentation. Ein Gespräch mit Andrea Kothen
Interview: Marc Bebenroth
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Blut an den Händen der EU: »Ehrliche« EU-Fahne bei einer Protestaktion von Pro Asyl im Berliner Regierungsviertel (20.6.2023)

Unmittelbar bevor der Bundestag am 12. April die neue Bezahlkartenregelung beschloss, hat Innenministerin Nancy Faeser, SPD, im Plenum ein Argument in den Fokus gerückt: Asylsuchenden Geldüberweisungen zu verwehren setze »dem menschenverachtenden Geschäftsmodell von Schleppern und Schleusern zusätzliche Schranken«. Welche Rolle spielen diese bei der Flucht?

Weil Flüchtlinge fast keine andere Chance haben, als einen »irregulären« Fluchtweg zu gehen, sind sie auf »Schlepper«, »Schleuser« oder Fluchthelfer, wie man sie früher nannte, angewiesen. »Menschenverachtendes Geschäft«, wie Frau Faeser das sagt – so einfach ist das nicht.

Inwiefern sollte man differenzieren?

Das kolportierte Bild des bösen Schleppers, der die Leute in Lastwagen ersticken lässt, ist verzerrt. Skrupellose Menschen gibt es. Es sind aber oft nicht die großen, kriminellen Netzwerke, die hier dann jahrelang Sozialleistungskrümel von den Leuten einsammeln. Das sind vielfältige Geschäftspraktiken, Ad-hoc-Strukturen; Leute, die auf einem Teilstück der Flucht unterstützen können, weil sie Ortskenntnisse haben oder in Grenznähe leben. Und es gibt Menschen, die Flüchtende in ihren Häusern übernachten lassen oder ihnen Lebensmittel geben.

In den letzten Jahren wurden vor allem Betroffene wegen Schlepperei verurteilt, die selber in die Situation kamen, plötzlich ein Boot steuern zu müssen oder eine Gruppe durch den Wald zu führen. Oder Angehörige, die ihren Lieben über die Grenzen helfen. Immer wieder kommen auch humanitäre Helferinnen und Helfer in juristische Schwierigkeiten.

Das Bundesinnenministerium, BMI, antwortete diese Woche auf jW-Anfrage, dass sie »in der Mehrheit der Fälle« vor Beginn der Schleusung bezahlt werden. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?

Dass sich Schlepper für ihre Arbeit und das Risiko in aller Regel vorher bezahlen lassen, ist unbestritten. Teils sparen Familien dafür an, um Angehörigen die Flucht zu ermöglichen. Stranden die dann auf dem Weg irgendwo, laufen die Menschen Gefahr, vor Ort ausgenutzt zu werden, weil sie mehr Geld für die Weiterflucht brauchen.

Laut BMI sollen Betroffene vor allem, wenn es um Menschenhandel geht, nach Ankunft oder dem Erreichen einzelner Etappen Zahlungen an die Schleuser entrichten. Was bewirkt in diesen Fällen die restriktive Einführung einer Bezahlkarte?

Das bringt selbstverständlich überhaupt gar nichts. Dieser Zusammenhang mit dem Menschenhandel ist auch sachlich nicht begründet. Wir wissen, dass Menschen, die zu Ausbeutungszwecken nach Deutschland gelockt werden – zum Beispiel Frauen in der Zwangsprostitution –, von den Menschenhändlern erheblich unter Druck gesetzt werden, um vermeintliche oder tatsächliche Schulden für die Beförderung abzuzahlen. Diese Netzwerke sind nicht auf mickrige Sozialleistungen aus, ihren Profit machen sie mit der Ausbeutung der Menschen.

Es sei nicht auszuschließen, dass Geldüberweisungen aus Deutschland an Verwandte in den Herkunftsländern »motivierend wirken« und möglicherweise »erneut zur Bezahlung von Schleusern genutzt werden könnten«, antwortete das BMI.

Es gibt dazu keinerlei Belege oder Statistiken. Die Bundesbank zeigt Geldflüsse vor allem in europäische Staaten mit hoher Arbeitsmigration. Überweisungen zur Unterstützung der Familien tätigen die Betroffenen, wenn sie einen gesicherten Aufenthalt haben und Einkommen verdienen können – und nicht während ihres Bezugs der Sozialleistungen in den ersten Monaten nach einer Flucht! Die Bundesregierung stellt hier Dinge einfach in den Raum, genauso wie sie in den Raum stellt, dass alle Fluchthelfer skrupellose Kriminelle sind.

Die Regierung habe »einzelne Erkenntnisse« darüber, dass Geflüchtete oder deren Angehörige bedroht werden, weil sie die Schleuser nicht bezahlt haben. Was ist Pro Asyl über diese Gefahren bekannt?

Abseits des Themas Menschenhandel haben wir solche Erkenntnisse nicht. Wenn man über Kriminalität sprechen will, gibt es aber durchaus Gefahren: Weil Geflüchtete schlicht nicht mehr genug Geld zum Leben erhalten und deshalb in große Schwierigkeiten kommen. Das könnte Menschen zu Straftaten treiben oder umgekehrt sie zu Opfern von faulen Geschäften werden lassen.

Andrea Kothen ist Referentin bei Pro Asyl e. V.

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