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Aus: Ausgabe vom 28.03.2024, Seite 5 / Inland
Agrarpolitik

Plackerei auf dem Feld

»Initiative Faire Landarbeit«: Lage der Saisonkräfte weiter prekär
Von Oliver Rast
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Die erste Spargelernte begann bereits am Dienstag im brandenburgischen Beelitz

Entgelt, Pensum, Unterkünfte und soziale Absicherung – die Jobs bleiben prekär: für Zehntausende Saisonkräfte aus Osteuropa in der deutschen Obst- und Gemüseernte. Das berichteten rund 3.000 von ihnen Gewerkschaftern und Kirchenvertretern der »Initiative Faire Landarbeit«. Am Mittwoch präsentierten die Initiatoren den druckfrischen Bericht »Saisonarbeit in der Landwirtschaft 2023« in Berlin. Es ist der sechste seit 2018.

Betroffene schildern darin, wie ihnen Mindestlöhne vorenthalten wurden, sie gesetzeswidrige Arbeitszeiten absolvieren sollten. Und bei Akkordunterschreitung drohten ihnen Ad-hoc-Entlassungen sowie der Rauswurf aus Wohncontainern. Unterkünfte, die Erntehelfern seitens der Chefs teils überteuert berechnet wurden.

Die für Landwirtschaft zuständige IG Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) kritisiert gemeinsam mit Schwestergewerkschaften aus Polen, Bulgarien und Rumänien ferner fehlende Sozialstandards, besonders bei Kurzzeitjobs. Für IG-BAU-Vize Harald Schaum sei es laut dpa vom Mittwoch völlig inakzeptabel, »dass wir in Deutschland auf die Arbeitskraft ihrer Landsleute setzen, aber kurzfristig Beschäftigten, die teilweise über Jahrzehnte auf unseren Feldern schuften, nicht nur den vollen Krankenversicherungsschutz verweigern, sondern auch Rentenansprüche«. Zudem böten billige Gruppentarife zur privaten Krankenversicherung keinen ausreichenden Gesundheitsschutz bei der harten Feldarbeit. Kurzum, sozial und gesundheitsspezifisch abgesichert sind Saisonkräfte hierzulande oft nicht.

Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit waren Ende Mai 2023 rund 50.000 Erntehelfer kurzfristig angestellt und mehr als 60.000 Arbeitskräfte aus Osteuropa langfristig in der Landwirtschaft beschäftigt. Die »Initiative Faire Landarbeit« geht davon aus, dass jährlich rund 275.000 Menschen in der Saisonarbeit tätig sind. Die Zahl der kurzfristig Beschäftigten sinke, weil die Arbeiter über längere Zeiträume sozialversicherungspflichtig angestellt würden.

Stellt ein Betrieb eine Saisonarbeitskraft nur kurzfristig ein, ist diese Beschäftigung versicherungs- und auch beitragsfrei. Das gilt für Jobs von bis zu 70 Arbeitstagen Dauer. Illegale Kettenverträge kommen vor, um saisonale Kräfte immer wieder aufs neue anzustellen, kritisieren Gewerkschafter. Und DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel wandte sich bei der Vorstellung des Berichts gegen die gängige Praxis, dass den Beschäftigten die Unterkunftskosten vom Mindestlohn abgezogen werden dürfen. Wie am Bau müssten Unternehmer die Kosten für Gruppenunterkünfte tragen, forderte Piel.

Nur, was hat sich im Zeitraum der sechs »Saisonberichte« verändert? Der Fach- und Arbeitskräftemangel in der Branche sei immer größer geworden, sagte Benjamin Luig am Mittwoch im jW-Gespräch. Dabei handele es sich schon lange nicht mehr nur um Spargelstechen und Erdbeerpflücken, betonte der Branchenkoordinator Landwirtschaft bei »Faire Mobilität« vom DGB. Über das gesamte Jahr verrichteten Saisonkräfte eine Vielzahl von Jobs in der Tierhaltung, in Baumschulen oder in der Pferdewirtschaft. Und ja, der Mindestlohn habe die Situation verbessert. Besonders die Dokumentationspflicht der Arbeitszeit sei ein Vorteil und erschwere Betrug. Um weitere Schlupflöcher zu stopfen, müsste die Arbeitszeiterfassung digitalisiert werden, so Luig. Unter dem Strich bleibe die Branche aber eine mit Sozial- und Lohndumping.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (29. März 2024 um 20:22 Uhr)
    Das Allheilmittel »Digitalisierung« darf mal wieder nicht fehlen. Nur weil etwas digital ist, ist es nicht automatisch gegen Betrug gesichert. Im Gegenteil: digitale Daten lassen sich an beliebigen Stellen in der Verarbeitungskette manipulieren, s. z. B. manipulierte Kassensysteme. Ich lehne mich hier an die Kritik des Chaos Computer Club an Wahlcomputern, welche er strikt ablehnt; man kann nicht alles gleichzeitig haben: nachvollziehbar, manipulationssicher, geheim. Apropos, nur am Rande: Wenn man die Integrität von Wahlen in Russland (oder z. B. im EU-Parlament) untersucht, sollte beim Onlinewahlsystem angesetzt werden! Z. B. kann am Bildschirm die Eingabe korrekt angezeigt, aber eine falsche in die Datenbank geschrieben werden; Nachvollziehbarkeit ist allein wegen (!) der digitalen Verarbeitung quasi unmöglich. Jedoch muss Zeiterfassung nicht geheim sein, weshalb es prinzipiell möglich ist, diese mithilfe kryptographischer Signaturen manipulationssicher zu machen, was allerdings gewisse Kenntnisse der Nutzer voraussetzt. Dann doch lieber die gute alte Stechuhr, analog den, durch nichts (!) ersetzbaren, Wahlzetteln; KISS: Keep it simple, stupid! Das ist am Ende auch viel billiger; wer gegenteiliges behauptet, ist nur auf der Jagd nach einer weiteren Lizenz zum Gelddrucken. Es fällt auf, dass diejenigen, die alles, auf Teufel komm raus, »digitalisieren« wollen (s. auch »digitale Schule«) und von »Cyber« schwadronieren, weniger als den Schimmer einer Ahnung von der Materie haben – Gruß an Neuland-Angie! Analog dem Gelassenheitsgebet möchte ich ihnen mitgeben: Alan Turing, gib mir die Gelassenheit, analog zu machen, was sich nicht verbessern lässt, das Knowhow, zu digitalisieren, was sich digitalisieren lässt, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Also sollte sich, wer Alan Turing nur aus »The Imitation Game« kennt, somit nicht das nötige Knowhow, geschweige denn besagte Weisheit, besitzt, eher gen Gelassenheit orientieren. ;-)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Oettern (28. März 2024 um 06:36 Uhr)
    Billiglöhner und Saisonarbeitskräfte auszunehmen, wie eine Weihnachtsgans, gehört als integraler Bestandteil nicht nur zum deutschen Wirtschaftsmodell, sondern ist ständiger Teil der »Wertschöpfung« des Wertewestens (weshalb dieser wohl so heißt). Wie ließ Brecht den Armen doch so treffend sagen: »Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich!«

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