Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 28.03.2024, Seite 4 / Inland
Coronamaßnahmen

Aufarbeitung im Wahlkampf

Wenige Monate vor wichtigen Wahlterminen wird die Coronapolitik wieder zum Thema. Rufe nach Enquetekommission und Untersuchungsausschuss
Von Nico Popp
4.jpg
Schule wegen Corona geschlossen: Auch Karl Lauterbach hat nun Zweifel (Berlin, 11.1.2021)

Die Auseinandersetzung um die politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie kehrt wieder in die deutsche Innenpolitik zurück. Nachdem das prägende Thema der Jahre 2020 und 2021 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 und dem Scheitern der Impfpflicht im Bundestag im April 2022 bemerkenswert rasch aus der tagespolitischen Debatte verschwunden war, wird nun – kaum zufällig wenige Monate vor der Wahl des EU-Parlaments im Juni und den drei ostdeutschen Landtagswahlen im September – wieder darüber gesprochen.

Dabei bildet die Debatte um die veröffentlichten Protokolle des RKI-Krisenstabs nur den äußeren Anlass. Die Wortmeldungen dieser Tage zeigen ganz unabhängig davon sehr deutlich, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien davon ausgehen, dass sich große Teile der Bevölkerung – jenseits des weithin irrational-regressiven »Querdenker«-Milieus, das lange als repräsentativ für jegliche Kritik an den Maßnahmen der Regierungen Merkel und Scholz hingestellt wurde – vier Jahre nach dem Beginn der Pandemie Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen wünschen.

Auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die kurz nach der Regierungsübernahme noch versucht hatten, die hochgradig kontroverse Impfpflicht durchzusetzen, signalisieren nun, dass eine Aufarbeitung der gesamten Coronapolitik wünschenswert sei – vorneweg Vizekanzler Robert Habeck, der am Mittwoch via Bild erklärte, die Politik solle den Mut haben, Lehren zu ziehen und Abläufe und Auswirkungen der damals angeordneten Maßnahmen zu überprüfen. »Schuldzuweisungen« will Habeck allerdings nicht. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann verteidigte gegenüber dpa einerseits die getroffenen Maßnahmen, räumte aber ein, dass es sinnvoll sei, sich noch einmal mit den getroffenen Entscheidungen zu befassen. Sie will über diesbezügliche Fragen »im Parlament diskutieren«, um »für die Zukunft daraus zu lernen«.

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Marie-Luise Dreyer (SPD) sagte dem Portal T-Online: »Ich halte eine Aufarbeitung – in welcher Form auch immer – für wichtig.« Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der sich am Mittwoch gegen Kritik des Bundesrechnungshofes an der Auftragsvergabe für die Impfkampagne »Ich schütze mich« verteidigen musste, hatte bereits Anfang März gegenüber dem Spiegel von »Fehlern« gesprochen. Insbesondere bei Kindern sei man »zu streng« gewesen und habe mit den Lockerungsmaßnahmen zu spät angefangen.

Weitergehende und kritischere Stellungnahmen kommen von der Opposition im Bundestag – und von der FDP. Der Linke-Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi, der bereit im September 2023 für eine Enquetekommission des Bundestages geworben hatte, erneuerte diese Forderung am Dienstag gegenüber T-Online. Diese Kommission solle klären, »welche Maßnahmen richtig und notwendig waren, welche bei einem ähnlichen Fall nicht wiederholt werden dürfen und ob es wesentlich weniger beeinträchtigende Alternativen zu den getroffenen Entscheidungen gibt«.

Eine Enquetekommission fordert – neben der Union – auch die FDP. Deren Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagte am Dienstag der Nachrichtenagentur dpa, es habe »zur Spaltung unserer Gesellschaft beigetragen«, dass »auch rationale Kritik an den verhängten Freiheitseinschränkungen oftmals in die Nähe von Coronaleugnern gerückt wurde«. »Auch Teile der Politik werden ihre Rolle während dieser Zeit erklären müssen«, so der FDP-Mann. Parteichef Christian Lindner meldete sich am Mittwoch im Kölner Stadt-Anzeiger zu Wort und konstatierte, dass man heute wisse, »dass viele Entscheidungen der früheren Bundesregierung großen sozialen und wirtschaftlichen Schaden angerichtet haben«. Lindner nannte »Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Zutrittsverbote«, die zum Teil »absolut unverhältnismäßig« gewesen seien.

Einen Untersuchungsausschuss zur Coronapolitik lehnte Lindner allerdings ab, weil der »zur parteipolitischen Profilierung missbraucht« werden könne. Die Einrichtung eines solchen Untersuchungsausschusses streben von den im Bundestag vertretenen Parteien bislang nur BSW und AfD an. Die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht sagte bereits am Montag gegenüber dpa, dass eine Enquetekommission nicht ausreiche. Es gehe »um die Zeit mit den größten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik«, und die müsse ein Untersuchungsausschuss beleuchten.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

  • Leserbrief von Hans Wiepert aus Berlin (28. März 2024 um 16:11 Uhr)
    Gut, dass das BSW hier der AfD nicht das Feld überlässt, sondern eine genaue Aufarbeitung der Maßnahmenexzesse fordert – eigentlich selbstverständlich für die Opposition (Hallo, Linke: Jemand zu Hause?).
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (28. März 2024 um 15:06 Uhr)
    »Die Einrichtung eines solchen Untersuchungsausschusses streben von den im Bundestag vertretenen Parteien bislang nur BSW und AfD an.« In welch trüben Gewässern Frau Wagenknecht fischt und wie sich Querdenker die »Aufarbeitung« vorstellen, zeigt die SWR-Recherche »Rache für Corona – wie weit gehen radikale Impfgegner?« (ARD-Mediathek 30.01.2024).
  • Leserbrief von Paul Vesper aus 52062 Aachen (28. März 2024 um 13:55 Uhr)
    »Coronapolitik aufarbeiten!« Skatbrüder kennen das, nennen es »Nachkarten«, und es bedeutet Streit. Es gibt kaum jemand, der die Coronamaßnahmen für völlig falsch hält. Die statistische »Übersterblichkeit« und das Wissen um die Menschen, die heute noch unter »Long-Covid-Erkrankungen« leiden, lassen sich nicht durch Enquête-Kommissionen glattbügeln. Den Schaden für Kinder und Jugendlichen durch Ausfall von Bildungsmöglichkeiten haben sämtliche Parteien, die die miserablen Einrichtungen und nicht nur die unzureichende digitale Ausstattung der Schulen seit Jahren geduldet haben, zu verantworten. Verantwortung tragen auch die Firmen mit ihren Wissenschaftlern, die mit großmäuligen Versprechen bezüglich der Wirksamkeit ihres Serums hohe Profite eingestrichen haben. Die Firma Biontech mit ihrem US-Partner Pfizer sticht hier hervor. Es war hier niemals ein Thema, dass auch Geimpfte nach wie vor ansteckend sind. Insgesamt waren die Coronamaßnahmen zu wenig zielgerichtet und zu lange terminiert. Heute wissen wir das. Frau Dr. Wagenknecht, Poster-Girl der Partei BSW, widerspreche ich, wenn sie das als größte Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik bezeichnet. Schließlich hatten wir 1966 die mit der SPD beschlossene Notstandsgesetzgebung. Ihr Ehemann müsste das wissen. Im übrigen gibt es heute drängendere Themen als Corona vor drei, vier Jahren: Krieg oder Frieden!
    Paul Vesper
    DKP
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (28. März 2024 um 15:32 Uhr)
      »Frau Dr. Wagenknecht, Poster-Girl der Partei BSW, widerspreche ich, wenn sie das als größte Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik bezeichnet.« Sie widersprechen Frau Wagenknecht also nicht grundsätzlich. Einen Unterschied zwischen Ihnen und dem »Poster-Girl« gibt es nur in der Frage, welche Dimension die »Grundrechtseinschränkungen« haben. Und dann noch das Lieblingsthema aller Quer- bzw. Nichtdenker: Die Pharmaindustrie hat Profite gemacht während der Pandemie. Welch ein Verbrechen! Tatsache ist, dass durch die Impfungen und durch die notwendigen Maßnahmen, die auch Sie als »Grundrechtseinschränkungen« bezeichnen, weltweit Millionen Menschenleben gerettet wurden.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Oettern (28. März 2024 um 06:23 Uhr)
    Coronaaufarbeitung: Noch so ein Nebenschauplatz, auf die man die Aufmerksamkeit der Menschen lenken kann, damit sie nicht über die Kriegslüsternheit ihrer Politiker oder den realen Sozialabbau nachdenken. Kritikfelder meist weit gestreut aufmachen, damit sich das gemeinsame Nachdenken möglichst nicht auf das Wesentliche konzentrieren kann – das ist die perfide Strategie, die man hinter all diesen »interessanten und unbedingt nötigen« Auseinandersetzungen um längst Vergangenes durchaus vermuten darf.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Jens D. aus Chatou (28. März 2024 um 01:22 Uhr)
    (…) Für mich war und bleibt zum Beispiel der Impfzwang für Studenten, die sonst nicht an Vorlesungen teilnehmen durften, ein Staatsverbrechen. Die Studenten hatten die »Wahl« zwischen körperlicher Unversehrtheit oder Recht auf Bildung. Tatsächlich scheint es heute klarer wie nie zuvor, dass die hastig zusammengeschusterte Impfung für junge Menschen mehr Risiken als Schutz brachte. Trotz »vollständiger« Impfung wurde meine Tochter genauso Corona-krank wie nichtgeimpfte junge Menschen und hatte dazu unerwünschte Nebenwirkungen. Hoffentlich keine Langzeitlichen. Von Ansteckungsschutz anderer durch die Impfungen, dem ultimativen Impfargument, kann nun letztendlich ebenfalls keine Rede sein. Nur ganz Wenige wurden nie Corona-krank. Auch die Maskenpflicht für Schulkinder, die noch weniger als »normale« Erwachsene fähig sind, nicht immerfort die Maske anzufassen, war staatlich verordneter Unsinn und Nötigung. Wohl jeder aufrichtige Arzt dürfte das heute bestätigen. Vorher trauten sich viele nicht … Hoffentlich bringt die Aufarbeitung Licht ins Dickicht der staatlichen, europäischen und Big-Pharma Machenschaften, so dass die Schuldigen identifiziert werden können. (…)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (27. März 2024 um 22:30 Uhr)
    Hinterher ist man immer schlauer, sogar die versammelten SchwaflerInnen aus der Schwatzbude. Die Unfähigkeit dieses Staates zu einer angemessenen Daseinsvorsorge wird sicher von keiner Enquetekommission und keinem Untersuchungsausschuss zur Diskussion gestellt. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne die Bundestagsdrucksache https://dserver.bundestag.de/btd/17/120/1712051.pdf vom 3.1.2013 (!!!) in Erinnerung rufen. Ab Seite 55 wird dort ein Szenario »Pandemie durch Virus ›Modi-SARS‹« der »Klasse C, Eintritt bedingt wahrscheinlich, ein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt«, vorgestellt. Da sieht man, wie schnell statistisch hundert oder tausend Jahre vergehen können, ohne dass die Bundespolitik etwas unternimmt. Wie voll waren denn zu Beginn der Pandemie die Lager mit »persönlichen Schutzausrüstungen«? Zitat aus der Drucksache (Seite 67): »Fraglich ist, inwieweit die kommunizierten Empfehlungen/Anweisungen umgesetzt werden, bspw. inwieweit Menschen über Schutzausrüstung verfügen und diese auch korrekt einsetzen können.« Wir haben Schränke durchwühlt, um geeignete Gewebe zu finden, aus denen improvisierter Mundschutz für Beschäftigte im Bereich der Pflege gemacht werden konnte. Zu dem Zeitpunkt waren weder OP-Masken (zum Fremdschutz), geschweige denn FFP2-Masken (zum Eigen- und Fremdschutz) verfügbar, Impfstoff in weiter Ferne. Schutzanzüge für das Personal (nicht nur) in den Kliniken? Hat sich an dieser Situation etwas geändert? Werden Schutzausrüstungen bevorratet, oder ist das zu teuer, weil man ja nicht weiß, wann die nächste Pandemie kommt? Kliniken werden vorsichtshalber ja schon in den Ruin getrieben. Es wäre noch eine Menge mehr zum Thema zu sagen, das passt aber nicht in 2.000 Zeichen.

Ähnliche:

  • Hat im Bundestag mehr Fans als in der Bevölkerung: Der Marschflu...
    09.03.2024

    Größtmögliche Eskalation

    Umfragen zeigen klare Mehrheiten gegen Marschflugkörperlieferung. Union will dennoch neue Abstimmung im Bundestag
  • Bekommt Druck von seinen Koalitionspartnern: Bundeskanzler Olaf ...
    28.02.2024

    Kriegstreiber in Rage

    Nach »Nein« von Scholz: Koalitionspolitiker fordern weiter »TAURUS«-Lieferung an Ukraine. Kritik von Linke sowie AfD

Mehr aus: Inland