28.03.2024 / Inland / Seite 4

Aufarbeitung im Wahlkampf

Wenige Monate vor wichtigen Wahlterminen wird die Coronapolitik wieder zum Thema. Rufe nach Enquetekommission und Untersuchungsausschuss

Nico Popp

Die Auseinandersetzung um die politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie kehrt wieder in die deutsche Innenpolitik zurück. Nachdem das prägende Thema der Jahre 2020 und 2021 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 und dem Scheitern der Impfpflicht im Bundestag im April 2022 bemerkenswert rasch aus der tagespolitischen Debatte verschwunden war, wird nun – kaum zufällig wenige Monate vor der Wahl des EU-Parlaments im Juni und den drei ostdeutschen Landtagswahlen im September – wieder darüber gesprochen.

Dabei bildet die Debatte um die veröffentlichten Protokolle des RKI-Krisenstabs nur den äußeren Anlass. Die Wortmeldungen dieser Tage zeigen ganz unabhängig davon sehr deutlich, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien davon ausgehen, dass sich große Teile der Bevölkerung – jenseits des weithin irrational-regressiven »Querdenker«-Milieus, das lange als repräsentativ für jegliche Kritik an den Maßnahmen der Regierungen Merkel und Scholz hingestellt wurde – vier Jahre nach dem Beginn der Pandemie Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen wünschen.

Auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die kurz nach der Regierungsübernahme noch versucht hatten, die hochgradig kontroverse Impfpflicht durchzusetzen, signalisieren nun, dass eine Aufarbeitung der gesamten Coronapolitik wünschenswert sei – vorneweg Vizekanzler Robert Habeck, der am Mittwoch via Bild erklärte, die Politik solle den Mut haben, Lehren zu ziehen und Abläufe und Auswirkungen der damals angeordneten Maßnahmen zu überprüfen. »Schuldzuweisungen« will Habeck allerdings nicht. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann verteidigte gegenüber dpa einerseits die getroffenen Maßnahmen, räumte aber ein, dass es sinnvoll sei, sich noch einmal mit den getroffenen Entscheidungen zu befassen. Sie will über diesbezügliche Fragen »im Parlament diskutieren«, um »für die Zukunft daraus zu lernen«.

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Marie-Luise Dreyer (SPD) sagte dem Portal T-Online: »Ich halte eine Aufarbeitung – in welcher Form auch immer – für wichtig.« Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der sich am Mittwoch gegen Kritik des Bundesrechnungshofes an der Auftragsvergabe für die Impfkampagne »Ich schütze mich« verteidigen musste, hatte bereits Anfang März gegenüber dem Spiegel von »Fehlern« gesprochen. Insbesondere bei Kindern sei man »zu streng« gewesen und habe mit den Lockerungsmaßnahmen zu spät angefangen.

Weitergehende und kritischere Stellungnahmen kommen von der Opposition im Bundestag – und von der FDP. Der Linke-Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi, der bereit im September 2023 für eine Enquetekommission des Bundestages geworben hatte, erneuerte diese Forderung am Dienstag gegenüber T-Online. Diese Kommission solle klären, »welche Maßnahmen richtig und notwendig waren, welche bei einem ähnlichen Fall nicht wiederholt werden dürfen und ob es wesentlich weniger beeinträchtigende Alternativen zu den getroffenen Entscheidungen gibt«.

Eine Enquetekommission fordert – neben der Union – auch die FDP. Deren Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagte am Dienstag der Nachrichtenagentur dpa, es habe »zur Spaltung unserer Gesellschaft beigetragen«, dass »auch rationale Kritik an den verhängten Freiheitseinschränkungen oftmals in die Nähe von Coronaleugnern gerückt wurde«. »Auch Teile der Politik werden ihre Rolle während dieser Zeit erklären müssen«, so der FDP-Mann. Parteichef Christian Lindner meldete sich am Mittwoch im Kölner Stadt-Anzeiger zu Wort und konstatierte, dass man heute wisse, »dass viele Entscheidungen der früheren Bundesregierung großen sozialen und wirtschaftlichen Schaden angerichtet haben«. Lindner nannte »Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Zutrittsverbote«, die zum Teil »absolut unverhältnismäßig« gewesen seien.

Einen Untersuchungsausschuss zur Coronapolitik lehnte Lindner allerdings ab, weil der »zur parteipolitischen Profilierung missbraucht« werden könne. Die Einrichtung eines solchen Untersuchungsausschusses streben von den im Bundestag vertretenen Parteien bislang nur BSW und AfD an. Die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht sagte bereits am Montag gegenüber dpa, dass eine Enquetekommission nicht ausreiche. Es gehe »um die Zeit mit den größten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik«, und die müsse ein Untersuchungsausschuss beleuchten.

https://www.jungewelt.de/artikel/472286.coronamaßnahmen-aufarbeitung-im-wahlkampf.html