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Aus: Ausgabe vom 13.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Oper

Das Mittel, das den Zweck verdrängt

Von allem zuviel: Sam Browns Neuinszenierung von Tschaikowskis »Pique Dame« an der Deutschen Oper Berlin
Von Kai Köhler
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Der Gedanke ans Mittel, an das Geld und an das Spiel, verdrängt den Gedanken an das Ziel, die Liebe

Geld ist dasjenige Gut, das Zugang zu fast allen anderen Gütern verschafft. Hermanns Fehler liegt darin, das »fast« zu übersehen. Er ist zaristischer Offizier, mit niedrigerem Rang und noch kleinerem Vermögen, und liebt die reiche, adlige Lisa, die sich wiederum mit dem ­Fürsten Jeletzkij verlobt. Hermanns Aussichten sind also denkbar gering, zumal seine Kameraden ihm einen finster-verschrobenen Charakter bescheinigen, der Fürst hingegen so großzügig wie sensibel ist.

Alexander Puschkin hat damit keinen Sympathieträger zur Hauptfigur seiner knapp und nüchtern formulierten Erzählung »Pique Dame« von 1834 gemacht. Tschaikowski und der Librettist, sein Bruder Modest, haben knapp sechzig Jahre später nur die Hauptmomente der Fabel übernommen und mit musikalischer wie textlicher Emphase das Porträt eines Außenseiters gezeichnet. Sam Brown als Regisseur der aktuellen Berliner Neuinszenierung an der Deutschen Oper bringt denn auch Szenen von Repression und Ausgrenzung auf die Bühne – wo sie vom Werk vorgegeben sind und auch, wo sie sich sonst einbauen lassen. Das ist sinnvoll, denn es hilft, das Unwahrscheinliche zu erklären: dass angesichts dieser Umwelt Lisa sich gegen eine angenehme Zukunft und für den fanatischen Stalker entscheidet.

Das könnte ein Rührstück werden und wird es weder bei Puschkin noch bei Tschaikowski. Hermann nämlich scheitert nicht an Lisa und nicht an dem Fürsten, sondern an sich selbst – oder daran, welchen Sozialcharakter die Gesellschaft ihm aufgezwungen hat. Er glaubt, für Lisa reich sein zu müssen. Als Zugang zum Reichtum hat er Lisas Großmutter ausgemacht, von der seine Kameraden erzählen, sie besäße das Geheimnis, mit welcher Kartenkombination man stets beim Spiel gewinne. Das setzt den Mechanismus in Gang, der zur Katastrophe führt. Der Gedanke ans Mittel, an das Geld und an das Spiel, verdrängt den Gedanken an das Ziel, die Liebe. Vom Fanatiker des Unglücks wird Hermann zum Fanatiker der Spielkarten und geht dafür, im wörtlichen Sinn, über Leichen – auch über die Lisas, die nicht gekauft sein wollte.

Der Stoff ist noch ganz gegenwärtig, in der Hauptsache wie in vielen Nebenaspekten. Etwa dem, wie man sich in Gesellschaft glücklich präsentiert, wenn man es nicht ist. Die Musik ist die der späten Werke Tschaikowskis, wie in der vorangegangenen fünften Sinfonie oft dominiert durch dunkle Holzbläser, zuweilen schon mit der Katastrophik der sechsten Sinfonie. Dabei komponiert Tschaikowski stets für die Bewegung auf der Bühne, schmilzt Elemente wie Volkslied oder Tanz in seinen Personalstil ein und vermeidet jede Redseligkeit. Das Orchester der Deutschen Oper unter Sebastian Weigle vermittelt Dramatik und Klangfarben der Komposition. Manche Nebenstimme tritt dabei leider zurück.

Die Verdienste der Inszenierung liegen in den vielen Einzelheiten, die eine Gesellschaft bloßstellen, in der man Geld, Erfolg und Glück herzeigt. Veraltet scheint nur der adlige Standes­dünkel, der verlangt, sich nicht mit dem einfachen Volk gemein zu machen. Doch hat auch er seine aktuelle Entsprechung im Gebot einer immer rigideren gesundheitlichen und moralischen Selbstdisziplinierung. All dies macht keinen Spaß, wenn man nicht wenigstens ein paar Verlierer treten darf, die arm sind, erfolglos und unglücklich; natürlich, weil sie sich nicht selbst an die Kandare genommen haben.

Leider verlässt sich Brown nicht auf das, was er an den Personen und den gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen ihnen herausarbeitet, sondern fährt den ganz großen Bühnenapparat auf, von Lichteffekten, Balletteinlage und Kostümrausch bis hin zu Stummfilmprojektionen. Die Inszenierung ist überladen und bräuchte eine Entschlackung auf das Wesentliche (was auch die allzu langen und stimmungstötenden Umbaupausen überflüssig machen würde).

Martin Muehle singt die kräftezehrende Hauptpartie des Hermann kräftig und schön; die leiseren Töne, das Geduckte und damit das Gefährliche, gelingen ihm nur selten. Nuancenreicher vermittelt Sondra Radvanovsky die Stimmungsumschwünge Lisas. Überhaupt ist dies ein Abend der Sängerinnen. Doris Soffel als Gräfin ist weit mehr als nur Hermanns Opfer. Die alternde Frau, die von ihren lange vergangenen Momenten am französischen Hof träumt, weiß doch gleich, welche Bedeutung sie für den Ehrgeizling hat, und ergreift ihre Chance. Soffels Stimme wie Bühnenpräsenz zeigen diese Einheit von Nostalgie und Macht. Das sind die Momente, in denen eine insgesamt zwiespältige Produktion überzeugt.

Nächste Vorstellungen: 15., 20., 23. und 27. März

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