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Aus: Ausgabe vom 10.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Oper

Das Vergehen der Wassergeister in Böhmen

Sieht phantastisch aus und ergibt wenig Sinn: Antonín Dvořáks Oper »Rusalka« an der Staatsoper Berlin
Von Maximilian Schäffer
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Die Nixe muss stumm sein: Christiane Karg als Rusalka

An der Staatsoper Berlin gab es am vergangenen Sonntag die Premiere von »Rusalka« zu sehen. Antonín Dvořáks Wassernixe will menschlich werden und den Prinzen küssen. So was verzeiht die Riege der Fabelwesen natürlich nicht, Rusalka wird verstoßen und darf nur noch als Irrlicht ein lästiges, todbringendes Glühwürmchen für den Gatten sein. Regisseur Kornél Mundruczó, film-, theater- und opernerfahrener Ungar, hat sich für ein kontemporäres Programmheft dienliche Vokabeln zurechtgelegt. Für ihn ist Rusalka eine Geschichte von »Identitäten und Transformationen« – so was schmeichelt sich ins Ohr der jungen Leute, die er zurück ins Opernhaus zerren will. Ob die sich überhaupt noch das Leben in der Altbau-WG leisten können, so wie es bis vor zehn Jahren noch in der Hauptstadt gängig war und wie es im Bühnenbild von Monika Pormale zielgruppengerecht nachgebaut steht, ist fragwürdig.

Rusalka also diffus postmodern, sie wohnt im Mietshaus, ist depressiv. Lebensgenossen sind der Langzeitstudent Wassermann (Mika Kares), stets lüstern in Boxershorts, und die drei Elfen (Regina Koncz, Rebecka Wallroth, Ekaterina Chayka-Rubinstein). Der Prinz (Pavel Černoch) ist ein schnöseliger Nachbar, er wohnt im Penthouse im Dachgeschoss. Weil Rusalka, die Arme, wegen ihres Gemütszustands viel Zeit in der Badewanne verbringt, wird ihr von der Hexe Ježibaba (Anna Kissjudit) geholfen und sie in ein Berghain-SM-Outfit gesteckt. Für die magische Dienstleistung der Kräuterfrau muss die Nixe stumm sein, so will es auch die Vorlage.

Mundruczó interpretiert den Märchenstoff rein ästhetisch und autopsychologisch – das zerrt an den Figuren. Die Sänger sehen gut aus in den Kostümen von Monika Pormale, während sie drei Stunden lang einen emotionalen Ansatz zur Rolle suchen. Wie sich eine Borderliner-Wassernixe ganz individuell fühlt, diese Frage steht auch Christiane Karg ins Gesicht geschrieben, die in der Titelpartie drei Stunden lang physisch alles gibt, aber deutlich mit der Lautstärke des Orchesters unter Robin Ticciati hadert. Anna Kissjudit hingegen kommt mit ihrer überzeichneten Hexendarstellung, grob und pfundig, gut durchs Geschehen. Wo einzig Klischees noch zünden, hat die Regie versagt. Besonders deutlich wird dies im Angesicht des abwesend wirkenden Prinzen. Pavel Černoch hat seiner komplizierten Geliebten wenig entgegenzusetzen. Die Haupttragödie des Konflikts zwischen Mensch und Magie, Leben und Liebe, Unter- und Oberschicht, wird zum Nebenprodukt der aktualisierten Dekoration. Das konservative Publikum buht nach dem ersten und zweiten Akt erwartungsgemäß inbrünstig. Einige Liberale halten aus reinem Trotz mit sanftem Jubel dagegen.

Im dritten Akt darf es dann doch noch romantisch werden. Dvořák selbst hat sich Mühe gegeben, Smetana mit Wagner zu fusionieren, im Jahr 1900, Entstehungsjahr der Oper, durchaus kein progressiver Akt mehr. Das allzuoft Volkstümliche blendet Dirigent Ticciati zugunsten phantastischer Wogen gutmütig aus. Es tut der Komposition im Jahr 2024, in dem »Identitäten und Transformationen« deutlich wichtiger sind als böhmische Hefeknödel, ganz gut.

Aale oder Egel, irgend etwas Länglich-Schleimiges fällt auf einmal aus allen Ritzen. Rusalka ist »verwandelt«, nicht in einen Käfer, mehr in eine alienhafte, schwarze Raupe. Das gruslige Geschleim gucken sich Regisseure seit knapp zehn Jahren identisch von der Netflix-Serie »Stranger Things« ab. ­Body-Horror passt zu identitätspolitischen Ansätzen vorzüglich, Christiane Karg kriecht und schleimt geschlechtslos durch den Wald. Wieder sieht es phantastisch aus, ergibt es wenig Sinn, vor allem aber hört es sich leerer an, als es sein müsste.

Es mag an der Schwäche der Vorlage liegen, selbst Jaroslav Kvapils Libretto ist bei nüchterner Betrachtung kein Meisterwerk. Nachvollziehbare emotionale Entwicklungen der Figuren wurden zugunsten einer schmalzigen Ausschmückung der Volkssage mit Logiklöchern so groß wie Kolatschen geopfert. Jetzt auch noch von Schmalz und Tradition bereinigt, überlässt die neue Version an der Staatsoper dem Zuschauer ein attraktives, aber sinnarmes Märchendrama, das sich um wenig mehr kümmert als sich selbst.

Nächste Aufführungen: 11., 15., 18. und 22. Februar, Staatsoper Unter den Linden, Berlin

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