4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Gegründet 1947 Freitag, 3. Mai 2024, Nr. 103
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten 4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten

Schlüsselbundklimpern

Von Helmut Höge
Helmut_Hoege_Logo.png

Eine echte Männermacke, dachte man, als diese Klimperer dann auch noch anfingen, ihre Schlüsselbunde mit überdimensionierten Karabinerhaken am Gürtel zu tragen, oft auch noch zusammen mit einem Flaschenöffner. Dabei hatte man in den 70er Jahren noch gedacht, dass mindestens in Berlin mit dem ersten Nachkriegsmodernisierungsschub aus Türsummern und Gegensprechanlagen, die den berühmten zigarrengroßen »Berliner Schlüssel« für die Haustür quasi aus der Welt schafften, eine Ära der sukzessiven Verkleinerung aller elenden Schlüsselbunde begonnen hätte. Erst recht, als dann auch noch die zigarillo­großen Wohnungstürschlüssel durch die sehr viel kleineren Schlüssel sogenannter Sicherheitsschlösser ersetzt wurden.

Der Wissenssoziologe Bruno ­Latour setzte 1993 dem in den »Aufbau Ost«-Wirren fast vergessenen »Berliner Schlüssel« mit einem gleichnamigen Essay ein Denkmal. Für Latour war dieses unsägliche Doppelbart­relikt, das es ab 20 Uhr, wenn der Hauswart abschloss, verhindert hatte, dass ein Mieter die Haustür offen ließ, ein Ausdruck der Entwicklung, in der die Moral durch die Technik ersetzt wird. Dass man, um den »Berliner Schlüssel« am Schlüssel­bund zu befestigen, noch eine Extrakonstruktion benötigte, hatte Latour sogar noch vergessen zu erwähnen. Die Schlüsselrolle, die beim Übergang von der Moral zur Technik der »Berliner Schlüssel« spielte, arbeitete er dafür dann noch einmal am Beispiel der Hotelzimmerschlüssel heraus, die mit immer unhandlicheren Gegenständen beschwert wurden, damit der moralvergessene Gast sie nicht an seinem Schlüsselbund mit nach Hause nahm.

Diese und weitere Schlüssel werden jedoch nun zunehmend durch Magnetkarten ersetzt, die Kreditkarten ähneln. Damit kann man nicht mehr klimpern. Etwa zur selben Zeit kam die Mode der bunten Schlüsselbänder auf, die man sich um den Hals hängte. In Neukölln war es einmal zu einem interessanten Schlüsselbundersatz gekommen: in der Hochhaussiedlung Gropiusstadt. Dort hatte man die Klingeln an den Eingängen der Hochhäuser zu hoch angebracht, so dass kleine Kinder nicht an alle oberen Klingelknöpfe herankamen. Die Eltern in den höheren Stockwerken gaben ihnen deswegen Kochlöffel mit auf den Weg. Damit konnten sie dann klingeln, wenn sie wieder reinwollten. Die schon größeren Kinder machten sich jedoch einen Spaß daraus, ihnen die Kochlöffel abzunehmen. Einer davon befindet sich heute im Neuköllner Heimatmuseum, es ist der jener berühmten »Christiane F.«, die bekanntlich in der Gropiusstadt aufwuchs, wo ihresgleichen nicht Schlüssel-, sondern Kochlöffelkind genannt wurden.

Von einem anderen berühmten Neuköllner, dem Mitglied der Bewegung 2. Juni und späteren Journalisten Till Meyer, stammt der Hinweis, dass sie in seiner Jugendzeit als Rocker­clique in Cowboymanier immer am Hermannplatz herumlungerten und dabei gelegentlich mit ihren Schlüsselbunden klimperten. Das Meyersche Schlüsselbundklimpern, das damals noch als »lässig« galt, wurde mit der Zeit bei den Jungmännern, vor allem bei denen, die dann nicht wie Meyer zur Knarre griffen, um das »Schweinesystem« aktiv zu bekämpfen, zur regelrechten Manie.

Der südelbische Autor Frank Schulz hat in einem Roman einen seiner durch Kneipen streunenden Hauptfiguren als astreinen Schlüsselbundklimperer dargestellt. Nach der »Wende« breiteten sich die Schlüsselbundklimperer geradezu epidemisch aus, vor allem im Osten, wo der Karabinerhaken lange Zeit proletarisch konnotiert war. In der Neuzeit kamen dazu dann noch Handy­etuis am Gürtel. Beides zusammen soll aussehen wie schwer bewaffnet und Sicherheit signalisieren. Ein dicker Schlüsselbund lässt sich zur Not aber auch wirklich als Handwaffe nutzen. Die Greifswalder Schriftstellerin Judith Schalansky erwähnt in ihrem Bildungsroman »Der Hals der Giraffe«, dass Lehrer Schlüsselbünde auch gerne als Wurfwaffe gegen schwatzende Schüler einsetzen.

Es verwundert nicht, dass neben den Lehrern vor allem die Justizvollzugsbeamten, »Schließer«, den höchsten Prozentsatz an Schlüsselbundklimperern aufweisen: 71 Prozent. Davon klimpern wiederum zwei Drittel gedankenverloren bzw. ängstlich mit ihren Schlüsseln, das restliche Drittel dann, um zu provozieren oder zu demütigen. Über die Hälfte der Gefangenen empfindet bereits den Entzug des Schlüsselbunds bei der Einknastung als »extrem demütigend«.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Regio:

Mehr aus: Feuilleton