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Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 10.04.2024
Beilage Behindertenpolitik

Vom schönen Schein

Inklusion zeichnet ideales Bild für eine Gesellschaft. Gute Absichten stehen im Vordergrund, die Belange der Betroffenen nicht
Von Suitbert Cechura
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»Bühnen waren immer schon dazu da, um auf Augenhöhe glasklare eiskalte Analysen zu liefern«

Das Thema Inklusion ist aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden. Dies war zu Zeiten der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 anders, und seitdem sind auch einige Gesetze verabschiedet worden, wie das Bundesteilhabegesetz 2016, die Inklusion umsetzen sollten. Dass sich damit für Menschen mit Behinderung das Leben grundsätzlich geändert haben sollte, ist nicht festzustellen. Wer die Debatte um Inklusion in der Öffentlichkeit verfolgt, trifft auf zwei sehr unterschiedliche Welten: Die eine stimmt das hohe Lied auf die Inklusion an, die Menschen mit Behinderung Menschenrechte und Anerkennung beschert, ihnen die Teilhabe am Leben der Gesellschaft ermöglicht und ein Leben in Selbstbestimmung und Autonomie erlaubt.

Das andere Bild zeigt Kinder in der Schule, die wegen mangelnder Unterstützung durch Lehrer dem Unterricht nicht folgen können, Schulen, die überfordert sind mit dem neuen Personenkreis, Menschen mit Behinderung, die in einer eigenen Wohnung vereinsamen usw. Stets wird dieses Bild um die Frage ergänzt, ob so Inklusion aussehen kann und soll und ob die Verantwortlichen das hehre Ziel der Inklusion auch wirklich wollen. Es taucht der Verdacht der »Inklusionslüge« auf und macht deutlich, dass die Differenz von Ideal und seiner Verwirklichung vielen bewusst ist, am Ideal dennoch festgehalten wird als etwas Positives. Die Kritik richtet sich gegen den falschen Gebrauch des Ideals. Was dabei häufig unter den Tisch fällt, ist, was ein Ideal ist, wozu Ideale taugen und wozu nicht und warum immer auch die Enttäuschung seiner mangelhaften Verwirklichung dazugehört.

Bild von Gemeinsamkeit

Inklusion verspricht, dass Menschen mit Behinderung nicht länger bevormundet werden sollen, sondern als gleichberechtigte am Leben der Gesellschaft teilhaben. Der Ausgangspunkt der Behindertenpolitik bleibt aber bestehen, dass Menschen mit Behinderung meist auf Hilfen angewiesen sind. Inklusion verspricht die Umgestaltung der Gesellschaft, so dass alle Menschen, behindert oder nicht, an ihr teilhaben können oder wie es die damalige Sozialministerin Ursula von der Leyen 2010 ausdrückte: »Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen mitmachen können.«

Nimmt man diesen Spruch ernst, so drängen sich einige Fragen auf: Woran sollen alle mitmachen können? Wer oder was hat die verschiedenen Menschen gehindert mitzumachen? Diese Fragen sind aber in der Regel kein Thema, wenn es um Inklusion geht, sondern es wird ein Bild von Gemeinsamkeit entworfen, das mit dem Alltag in dieser Gesellschaft nichts zu tun hat. Was unterstellt wird, ist der Gedanke, dass gemeinsam besser als getrennt sein soll.

Was in einer Gesellschaft zu ändern wäre, um alle Menschen an allem mitmachen zu lassen, lässt aber sehr schnell Zweifel aufkommen, ob dies wirklich die Intention von Inklusion ist. Soll an jeder Schule wirklich jeder Schüler nach Belieben lernen können? Hieße das nicht, unterschiedliche Bildungsgänge und Noten abzuschaffen, mit denen Schüler auf unterschiedliche Ebenen der Berufshierarchie verteilt werden? Bekommen alle einen Arbeitsplatz und ein Einkommen und wird die Auswahl der Unternehmer eingeschränkt, sich die Arbeitskräfte nach ihren Anforderungen auszusuchen? Davon ist aber nichts zu sehen und insofern entpuppt sich Inklusion als ein Ideal, eine schöne Vorstellung, die der Realität entgegengehalten wird, der niemand widersprechen will und von der jeder weiß, dass sie so nicht umgesetzt werden soll und umgesetzt werden kann.

Das Gegenteil von Inklusion ist Exklusion, das genauso unwirkliche andere Extrem: Um sich außerhalb der ­vorhandenen Gesellschaft zu bewegen, muss man schon auswandern. Ansonsten bewegt man sich immer innerhalb ihrer Gesetze und Regeln. Von Interesse ist doch eher, wie einzelne Gruppen von Bürgern in der Gesellschaft vorkommen und wie sie sich in ihrer Existenz unterscheiden.

Worauf dieses Bild mit drinnen und draußen, gemeinsam oder getrennt anspielt, ist die Lage der Menschen mit Behinderung, die in dieser Gesellschaft vielfach in Sondereinrichtungen und in Armut leben und deshalb von den meisten Dingen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen sind. Zum einen, weil schulisches Lernen mit einem Leistungsvergleich verbunden ist, in dem Schüler mit Behinderungen absehbar zu den Verlierern gehören. In Förderschulen sollen sie an die vorhandenen Abschlüsse herangeführt werden. Zum anderen, weil so gut wie alles in dieser Gesellschaft an den Besitz von Geld gebunden, sprich mit Bezahlung verbunden ist – mit entsprechenden Konsequenzen für diejenigen, die nicht über ein eigenes Einkommen oder Vermögen verfügen und auf Sozialleistungen angewiesen sind. Diese sind oft an Bedingungen geknüpft, die eine Bevormundung beinhalten. Wer auf Hilfe im Alltag angewiesen ist, muss sich so von denen, die diese Hilfe erbringen, vorgeben lassen, wie der Alltag auszusehen hat. Inklusion ist das Versprechen, an dieser Situation etwas zu verändern, wobei die Perspektive eröffnet wird, am normalen Unterricht und Arbeitsmarkt sich bewähren zu dürfen.

Prinzipiell unerreichbar

Dass dies nicht durch eine völlige Umgestaltung der Gesellschaft beabsichtigt ist, sondern der bisherigen Realität mit Inklusion ein schönes Bild entgegengehalten wird, ist bekannt. Im Gegensatz zu einem Handlungsziel, bei dem Vorstellungen entwickelt werden, mit welchen Mitteln dieses zu erreichen ist, wird bei einem Ideal von der prinzipiellen Unerreichbarkeit ausgegangen. Allenfalls soll eine Annäherung an den schönen Zustand möglich sein, kann doch jede Änderung als ein kleiner Schritt hin zu diesem Ideal gedeutet werden. Ziele zu verfolgen, die nie erreichbar sind, gilt im Alltag als irrational. Ideale zu verfolgen stößt hingegen auf ein widersprüchliches Echo. Idealisten gelten zum einen als gute Menschen, die hehre Ziele verfolgen, zum anderen haben sie den Ruf des Weltfremden. Denn zum Idealismus gehört der Realismus dazu, d. h. man kennt gute Gründe, warum das Ideal nicht erreicht werden kann. Aber auch wenn die Realisierung nicht in Sicht ist, soll man demjenigen, der das Ideal verfolgt, seine Absicht zugute halten. Notwendigerweise gibt es Streit darum, ob derjenige, der das Ideal als Zweck seines Tuns angibt, dieses ernsthaft verfolgt oder ob das Handeln als erster Schritt, wenn auch mangelhaft, so doch in guter Absicht, eine Annäherung darstellt.

Die Betonung eines Ideals leistet damit unterschiedliche Dienste: Für die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen ist es ein Mittel, ihre Arbeit in ein gutes Licht zu rücken, auch dann wenn das negative Wirkungen für die von diesen Maßnahmen Betroffenen hat. Sie können ihre gute Absicht hervorkehren und die mangelnde Verwirklichung den widrigen Bedingungen zuschreiben. So weisen sie die Verantwortung für die negativen Wirkungen von sich.

Für Betroffene leisten Ideale nichts, außer vielleicht, dass sie Trost bringen und die Hoffnung, es könnte vielleicht auch einmal anders werden. Das Einklagen von Idealen bei den politisch Verantwortlichen knüpft immer an einer Gemeinsamkeit an, die es gar nicht gibt. Unterstellt ist ein gemeinsames Ziel, von dem jeder weiß, dass es nicht zu realisieren ist und bei dem jeder unterschiedliche Vorstellungen von dem hat, was möglich wäre. So leistet das Einklagen von Idealen bei den Verantwortlichen immer nur eins: Es betont ihre Zuständigkeit und damit ihre Möglichkeit, über andere zu entscheiden, und die Güte ihrer Aufgabe, die sie zu erledigen hätten.

Ideale haben aber immer auch eine Botschaft: So kündigt Inklusion eine Änderung in der Behindertenpolitik an, bei der man sich die Vorstellung von Gemeinsamkeit machen soll, die aber die Selbstverantwortung und Autonomie der Menschen betont. Dabei verfügen die meisten Menschen gar nicht über die Mittel, ihr Leben eigenständig zu bestreiten. Und Autonomie stellt in einer arbeitsteiligen Gesellschaft eher ein Rückschritt dar. So sind auch Selbstverantwortung und Autonomie Ideale einer Gesellschaft, in der Abhängigkeit von Unternehmern oder vom Sozialstaat für die meisten Menschen die Normalität darstellt.

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