junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Donnerstag, 16. Mai 2024, Nr. 113
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 10.04.2024
Beilage Behindertenpolitik

»Dinge bleiben oftmals verwehrt«

Sexualität und Behinderung: Menschen werden aus einer defizitorientierten Perspektive betrachtet und vor eigenen Erfahrungen »beschützt«. Ein Gespräch mit Chris Lily Kiermeier
Von Ina Sembdner
6a.jpg
»Und welche Körper umgekehrt immer schon in einem Ende der Welt lebten, das ist die Frage, die mich interessiert«

Sie engagieren sich unter dem Namen Sexabled im Bereich Sexualität und Behinderung. Wie kam es dazu?

Ich habe fünf Jahre lang in einer ­WFBM, also einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, gearbeitet. Letztendlich habe ich gekündigt, weil mich dieses System physisch und psychisch nahezu zerstört hat. Ich wollte aber immer arbeiten. Allerdings waren die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt gleich null. Zurück in eine andere Werkstatt war jedoch keine Alternative. Nach einiger Zeit der Arbeitslosigkeit entstand die Idee, einen Blog zu erstellen. Die Frage war allerdings, worüber. Der erste Impuls war ein Blog über Kino, Filme und Serien zu starten. Schnell wurde mir bewusst, dass es aber schon unzählige Blogs über dieses Thema gibt. Die nächste Idee drehte sich um das Kochen, was ebenfalls eine Leidenschaft von mir ist. Letztlich wollte ich aber etwas tun, das auch eine gewisse gesellschaftliche Relevanz besitzt. Dadurch entstand die Idee das Tabu von Behinderung und Sexualität aus der Sicht einer Betroffenen aufbrechen zu wollen. Das war der Beginn von Sexabled.

Stellen Sie sich doch bitte kurz für unsere Leserinnen und Leser vor.

Ich bin eine 34 Jahre alte trans Frau mit einer körperlichen Behinderung. Momentan teile ich mir noch mit meinen Eltern eine Wohnung in München, da die Wohnungssituation in dieser Stadt grundsätzlich sehr schlecht ist – insbesondere aber für Menschen mit Behinderungen. Ich lebe polyamor, führe also mehrere romantische Beziehungen. Seit Jahren arbeite ich als Aktivistin, freie Autorin sowie gelegentlich als Model. Meine Behinderung ist eine Motoneuronenerkrankung, die dafür sorgt, dass meine Muskeln immer weiter abbauen. Da ich von einer 24-Stunden-Assistenz begleitet werde, kann ich mein Leben selbstbestimmt leben.

Können Menschen mit Behinderungen ihre Sexualität frei ausleben?

Ich kann das nicht so klar mit Ja oder Nein beantworten. Grundsätzlich hat natürlich jeder Mensch in diesem Land das Recht auf das freie Entfalten seiner Persönlichkeit – wozu auch die Sexualität gehört. Aber das Recht haben und Recht bekommen ist nicht das Gleiche. Für Menschen mit Behinderung ist es leider so, dass oftmals wichtige Dinge für die jeweilige Persönlichkeitsentwicklung verwehrt bleiben, weil die Gesellschaft einen sehr defizitären Blick auf uns hat. Die Annahme, Menschen mit Behinderungen vor Sexualität und romantischen Gefühlen schützen zu müssen, stigmatisiert sowohl uns als auch unsere Beziehungsmenschen. Daher würde ich sagen, dass es leider schwierig ist, oder schwierig sein kann, die eigene Sexualität zu entfalten.

Was glauben Sie, steht dahinter, also was für ein Gedankenkonstrukt?

Dahinter steckt oft die Vorstellung, dass man Menschen mit Behinderung vor Liebeskummer oder vor sexuellem Scheitern schützen muss. Diese Erfahrungen sind aber durchaus wichtig. Natürlich ist Liebeskummer kein schönes Gefühl. Und selbstverständlich kann sexuelles Scheitern frustrierend sein. Ich möchte aber persönlich keine dieser Erfahrungen missen, weil ich an ihnen gewachsen bin. Menschen mit Behinderung diese Chance auf Entwicklung zu nehmen ist kein Schutz, das ist Ableismus. Ich kenne auch die Annahme, dass es Menschen mit Behinderungen traurig macht, weil wir Sachen vielleicht nicht nach klassischen Mustern umsetzen können. Mittlerweile muss ich über solche Gedankengänge von nichtbetroffenen Personen lachen, denn viele Menschen mit Behinderung – und hier schließe ich mich ein – haben großartigen Sex: Wir haben gelernt, Sex an unsere Behinderungen anzupassen.

Daher finde ich es so schade, wenn nichtbetroffene Menschen diesen defizitorientierten Blick auf uns anwenden und dadurch ausdrücken: »Wir gönnen euch diese Erfahrung nicht.«

Also ein Stück weit paternalistisches Verhalten, wahrscheinlich auch nicht nur in diesem Bereich …

Absolut. Es ist in unserem Alltag so, dass wir einfach nicht für voll genommen werden. Das erleben wir in unterschiedlichen Bereichen. Das erste Beispiel ist, dass man mit Menschen mit Behinderungen immer sehr laut und deutlich spricht, als ob man grundsätzlich unsere Intelligenz bezweifeln würde. Wir werden in medizinischen Bereichen oft nicht ernst genommen, weil uns die eigene Expertise aberkannt wird. Man wird einfach häufig nicht als vollwertige erwachsene Person wahrgenommen. Ich werde ständig als absoluter Ausnahmefall behandelt, weil trans und körperliche Behinderung gibt es ja irgendwie nicht – angeblich. Es gibt aber auch positive Diskriminierungen. Beispielsweise werden Menschen mit gewissen Behinderungen oft automatisch zu Genies erklärt, weil wir Menschen an Stephen Hawking erinnern. Es wäre wünschenswert, wenn wir Menschen mit Behinderung einfach als Individuum wahrnehmen würden.

Ein weiteres wichtiges Thema, mit dem Sie sich befassen, ist sexualisierte Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen. Wie dramatisch ist da die Situation?

Ich persönlich finde es sehr dramatisch, weil ich die Zahlen kenne. Frauen mit Behinderungen sind zwei bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch in der Kindheit und Jugend ausgesetzt als Frauen ohne Behinderung. Über sexuelle Gewalt an Männern mit Behinderung wissen wir kaum etwas. Über Gewalt an trans und inter Personen wissen wir gar nichts. Wir haben da sehr lange die Verantwortung verschlafen, wir als Gesellschaft und auch in der Politik. Diese Dinge geschehen ja nicht in einem Vakuum. Es ist ein Gemisch von mangelndem Selbstwertgefühl und wenig Wissen, das missbrauchenden Personen überhaupt Gelegenheit bietet, diese Taten begehen zu können. Wenn wir Kinder mit Behinderung früh aufklären würden über ihren Körper, dann könnten wir viele dieser Übergriffe vermeiden. Es geht wie immer um Prävention, und die kommt bei Menschen mit Behinderung so gut wie gar nicht an. Für mich müssen wir ganz klar von einem absoluten Versagen sprechen.

Gibt es diesbezüglich eine positive Entwicklung in der Politik?

Es gibt Stellen, wo man merkt, dass es ein wachsendes Bewusstsein für dieses Problem gibt. Ich wurde vor einigen Tagen von der BKSF, der Bundeskoordinierung spezialisierter Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, nach Berlin eingeladen. Weil man eben dort auch irgendwann mal verstanden hat, dass Menschen mit Behinderung einem höheren Risiko ausgesetzt sind. Das ist positiv. Aber ich muss sagen, so sehr ich mich darüber freue, dass das Bewusstsein ganz langsam entsteht, wir wissen es ja nicht erst seit gestern. Klar, kann man immer sagen, Dinge brauchen Zeit. Wir haben uns jetzt aber auch wirklich sehr viel Zeit gelassen, diese Situation gekonnt zu ignorieren.

Vor kurzem ist die erste gehörlose Abgeordnete in den Bundestag eingezogen. Das wird als fortschrittlich dargestellt. Aber ist das tatsächlich ein Zeichen für eine Veränderung? Wie sehen Sie das?

Grundsätzlich ist es natürlich super, dass diese Person mit ihrer Behinderung diesen Erfolg erfahren hat. Das ist schön, und das will ich auch nicht in Abrede stellen. Allerdings, persönliche Erfolgsgeschichten von einzelnen Menschen mit Behinderung taugen meiner Ansicht nach nicht dazu, hier allgemein von Fortschritt zu sprechen. Denn für den Großteil der Menschen mit Behinderung gibt es einfach eine umfassende strukturelle Benachteiligung. Das ist ein Fakt. Es geht darum, dass Eltern von Beginn an für ihre betroffenen Kinder massiv kämpfen müssen. Seien es Hilfsmittel, Unterstützung im Alltag, inklusive Bildung … Diese Liste lässt sich nahezu endlos fortsetzen. Die Dinge auf dieser Liste werden um so diskriminierender, je älter Betroffene werden. Da täuschen einzelne Erfolgsgeschichten nichts vor, wenn man weiß, wie die Realität in diesem Land eigentlich ausschaut.

Was braucht es am dringendsten?

Wir sind eines der reichsten und mächtigsten Länder auf diesem Planeten. Dass wir uns Zustände wie die von mir beschriebenen überhaupt erlauben, ist eine unfassbare Schande für dieses Land und seine Gesellschaft. Der Schlüssel zu einer wirklich gelungenen Inklusion liegt in inklusiver Bildung. Wir können ein so defizitorientiertes Bild von Menschen nur ändern, wenn sich Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung von klein auf immer wieder begegnen. Und der beste Ort dafür ist einfach die Schule. Wenn wir Inklusion wollen, geht das nur über Bildung.

Chris Lily Kiermeier ist eine Münchner Bloggerin und Aktivistin. 2018 gründete sie ihren Blog Sexabled. Ihre Arbeit dreht sich hauptsächlich um Themen wie Behinderung und Sexualität sowie Queersein mit einer Behinderung. Neben ihrem Blog arbeitet sie ehrenamtlich für die »Trans*Inter*Be­ratungsstelle« der Münchner Aidshilfe. Als trans Frau mit einer Behinderung legt sie großen Wert darauf, dass Intersektionalitäten stärker beachtet werden

sexabled.de

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Mehr aus: Inland