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Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 10.04.2024
Beilage Behindertenpolitik

Beschäftigungsquote stagniert

Ampelregierung und Betriebe in der Kritik: Gewerkschaften fordern bessere Integration von Kollegen mit Handicaps in den Arbeitsmarkt
Von Gudrun Giese
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»Wir sind die Erinnerung, wir erzählen immer wieder vom Untergang der Menschheit«

Wenn es um die Integration von Personen mit schweren Handicaps in den ersten Arbeitsmarkt geht, sind sich die Mitgliedsgewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) einig: Es muss erheblich mehr dafür getan werden.

Anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember 2023 forderte die IG Metall, »dass jeder Betrieb barrierefrei und damit aufnahmebereit für Behinderte werden« müsse. Durch die Möglichkeit, sich mit einer Ausgleichsabgabe von der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen freizukaufen, würden Unternehmen aber nicht zur Einstellung Behinderter animiert. Mit Bezug auf Angaben der Bundesagentur für Arbeit bezifferte die Gewerkschaft den Anteil dieser Gruppe in den Betrieben auf lediglich 4,5 Prozent. In der Gesamtbevölkerung liege der Anteil »schwerbehinderter Menschen« hingegen bei knapp zehn Prozent.

Schwerbehinderte seien kein Kosten-, sondern ein Chancenfaktor, betonte dabei IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. »Ohne behinderte Beschäftigte verzichten Unternehmen auf gut qualifiziertes Personal.« Dabei zeigten Untersuchungen, dass Personen mit Einschränkungen erheblich länger erwerbslos blieben als Menschen ohne Behinderung. Oft müssten sie Jobs annehmen, für die sie überqualifiziert seien. Unternehmen sollten den anstehenden sozialökologischen Wandel auch dafür nutzen, »Menschen mit Behinderung endlich bessere und verbriefte Chancen zu geben«, so Urban weiter.

Mit Blick auf die damals anstehenden Wahlen der betrieblichen Schwerbehindertenvertretungen hatte sich DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel Ende September 2022 mit einer ähnlichen Kritik wie Urban an die Öffentlichkeit gewandt: »Menschen mit schweren Behinderungen sind noch immer deutlich weniger am Erwerbsleben beteiligt als Menschen ohne Behinderung – und das, obwohl sie im Durchschnitt besser qualifiziert sind.« Die Erwerbsbeteiligung dieser Gruppe liege nur bei 49 Prozent im Vergleich zu 78 Prozent bei Arbeitskräften ohne schwere Handicaps. Und so stagniere die Beschäftigungsquote Schwerbehinderter bei um die 4,5 Prozent. Privatunternehmen blieben mit 4,1 Prozent noch unter dieser Quote, während der öffentliche Dienst und staatliche Unternehmen etwas darüber lägen.

In diesem Bereich finden sich vereinzelt positive Beispiele, über die etwa die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) Ende November 2023 berichtete. In der Fahrzeuginstandhaltung der bundeseigenen Deutschen Bahn AG (DB) in Bremen würden Bewerber mit einer Behinderung grundsätzlich zum Vorstellungsgespräch eingeladen, sagte Ronald Ditte, stellvertretender Vorsitzender des Behindertenpolitischen Ausschusses der EVG, was keineswegs selbstverständlich sei. Passe ein bestimmter Arbeitsplatz nicht, werde ein anderer gesucht. Im DB-Werk Neumünster hätten nach der Einstellung eines gehörlosen Beschäftigten seine Kollegen einen Kurs in Gebärdensprache erhalten. Wie gut die Integration der Schwerbehinderten funktioniere, hänge letztlich »immer mit den handelnden Personen zusammen«, so Ditte. Generell wäre es aus seiner Sicht allerdings wichtig, die Unternehmen stärker zu ihrem Glück zu zwingen, etwa in Form einer Ausbildungsquote für Behinderte.

Einen Vertreter der Bundesregierung lud sich der Bundesarbeitskreis Behindertenpolitik (BAK) der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi Ende Oktober vergangenen Jahres zu seiner Herbsttagung ein: Peter Mozet aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales referierte über die »Förderung des inklusiven Arbeitsmarktes«. Die BAK-Vertreter zogen aus dem Vortrag den Schluss, dass die Ampelkoalition dringend aktiv werden müsse. Die Bundesregierung solle »endlich wirksam Vorschriften für einen inklusiven, mit der UN-Behindertenrechtskonvention in Einklang stehenden Arbeitsmarkt schaffen«. Außerdem müsse sie dafür sorgen, »dass der Arbeitsmarkt und das Arbeitsumfeld offen, inklusiv und gleichermaßen für Menschen mit Behinderungen zugänglich ist«.

Auch DGB-Vorstandsmitglied Piel hatte in ihrem Statement anlässlich der Wahlen zu den Schwerbehindertenvertretungen Ampelkoalitionäre zum Handeln aufgefordert, da die Mehrheit der Betriebe von sich aus nicht mehr täte für Behinderte. So solle die Bundesregierung »endlich die Ausgleichsabgabe empfindlich anheben für Unternehmen, die keine Menschen mit Behinderung beschäftigen«. Ebenso wichtig sei ein besseres Eingliederungsmanagement für Beschäftigte, die nach langer Krankheit an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollten. Der DGB fordere einen Rechtsanspruch auf ein betriebliches Eingliederungsmanagement, so Piel. »Dazu müssen auch die Rechte der Schwerbehindertenvertretung gestärkt werden – denn sie sind es, die für die Wahrung der Rechte von über einer Million Beschäftigten sorgen.«

Wie wichtig die Vertretungen für die Qualität der Arbeitsbedingungen schwerbehinderter Beschäftigter sind, ergibt sich aus einer Befragung zum »DGB-Index Gute Arbeit« von 2021: Dort wo eine betriebliche Schwerbehindertenvertretung existiere, seien sowohl die Einkommen wie auch betrieblichen Sozialleistungen und Weiterbildungsmöglichkeiten für diese Beschäftigtengruppe deutlich besser, hatten die Befragten angegeben. Die Vertretungen seien vor allem im öffentlichen Dienst, größeren Unternehmen sowie Betrieben mit Betriebs- bzw. Personalrat zu finden, wo es öfter eine verankerte Kultur der betrieblichen Mitbestimmung gebe.

Schwerbehindertenvertretungen könnten vor diesem Hintergrund die spezifischen Interessen jener Beschäftigtengruppe gut vertreten. Entsprechend wichtig wäre es, ihre Wahl in allen Betrieben zu fördern.

Doch mit etlichen Initiativen im Bereich der Behindertenpolitik bleibe die Bundesregierung hinter ihren in der Koalitionsvereinbarung angekündigten Verbesserungen zurück. IG-Metall-Vorstandsmitglied Urban kritisierte das angekündigte Behindertengleichstellungsgesetz und die »Bundesinitiative Barrierefreiheit«, weil in beiden Regelwerken die Arbeitswelt weitestgehend ausgeklammert sei. »Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Deutschland zur Förderung und verbietet die Diskriminierung Behinderter. Erst die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zeigt, wie weit wir als Gesellschaft wirklich sind.«

Und wie halten es die Gewerkschaften selbst mit der Beschäftigung Schwerbehinderter und ihnen Gleichgestellter? Auf jW-Anfrage teilte die Verdi-Pressestelle mit, dass von bundesweit mehr als 3.300 Beschäftigten der Gewerkschaft insgesamt 279 schwerbehindert bzw. ihnen gleichgestellt sind, das entspricht einer Quote von 8,35 Prozent.

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