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Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 10.04.2024
Beilage Behindertenpolitik

Seelischer Ausnahmezustand

Alltagsdiskriminierung: Personen mit psychischen Handicaps sind oft »unsichtbar«. Rund ein Fünftel von ihnen wird stationär zwangseingewiesen – einzelne tödlich getroffen
Von Kim Nowak
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»Eine knallharte kapitalistische Kackscheiße und das muss man auch als solche benennen«

Behinderung, Schwerbehinderung – was kommt einem zuerst in den Sinn? Richtig: körperliche Einschränkungen. Aber das Thema ist weiter gefasst, deutlich: Darunter fallen gleichfalls psychische, seelische Handicaps. Diese sind in den meisten Fällen nicht von außen erkennbar, also »unsichtbar«. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihr Leid und ihre Hürden im Alltag nicht sichtbar wären. Dass psychische Behinderungen bzw. Erkrankungen weniger Beachtung finden als körperliche, räumt auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein. In ihrem Dossier »Behinderung/chronische Krankheiten« schreiben sie, dass in der BRD 15 Prozent der Bürger mit »amtlich anerkannten Behinderungen« leben, die seit längerer Zeit die »Teilnahme am täglichen Leben beeinträchtigt«: »Auch psychische Erkrankungen werden dabei oft nicht mitbedacht.«

Die Zahl der Erwachsenen, die jährlich von einer psychischen Erkrankung betroffen sind, liegt bei 27,8 Prozent, wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) im November 2023 mitteilte. Am häufigsten fallen darunter Angststörungen (15,4 Prozent), Depressionen (8,2 Prozent) und »Störung durch Alkohol- und Medikamentenkonsum« (5,7 Prozent). Damit zählen laut DGPPN psychische Erkrankungen neben etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen und »bösartigen Neubildungen« zu den »vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre«. Im Durchschnitt würden psychisch Erkrankte zehn Jahre früher sterben. Die gesamten wirtschaftlichen Kosten, die der deutsche Staat aufgrund psychischer Erkrankungen aufbringen muss, liegen laut DGPPN bei 147 Milliarden Euro. Darunter fallen neben medizinischer Versorgung wie Therapien und Klinikaufenthalten auch Sozialleistungen und »Produktivitätseinbußen«.

Dass besonders Werktätige immer häufiger krank werden, schlüsselte der »Psychreport 2023« der DAK Gesundheit auf. Im Zeitraum von 2012 bis 2022 stiegen die Fehltage um 48 Prozent. Waren es 2012 noch 204 Fehltage auf 100 Versicherte, lagen die Zahlen 2022 bei 301 Fehltage auf 100 Versicherte. Damit liegen sie 2022 nach Erkrankungen des Atmungssystems (398 Fehltage) und des Muskel-Skelett-Systems (354) auf Platz drei. Dabei zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Männern und Frauen: Bei Männern lag der Wert 2022 bei 233 Fehltagen auf 100 Versicherte, bei Frauen bei 380 Fehltagen. Ihnen gemein ist allerdings ein Anstieg der Fehltage bei Werktätigen zwischen 20 und 30 Jahren: Bei Männern zwischen 25 und 29 Jahren stiegen die Fehltage um 29 Prozent, bei Frauen zwischen 20 und 30 Jahren um 24 Prozent. Das bedeutet, dass besonders Personen aus der »Generation Y« (Jahrgänge 1981 bis 1996) und der »Generation Z« (Jahrgänge 1997 bis 2010) aufgrund psychischer Erkrankungen überdurchschnittlich oft nicht zur Arbeit erscheinen können.

Um psychisch erkrankte Menschen sichtbar zu machen, wurde daher 1992 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der World Federation for Mental Health (WFMH) der »Welttag für psychische Gesundheit« ausgerufen. Dieser Tag, der jährlich am 10. Oktober begangen wird, soll einerseits auf die psychische Gesundheit von Menschen aufmerksam machen und andererseits auch Zugang zu weitergehenden Informationen bieten. In der BRD wird zusätzlich zeitlich seit 2010 die »Woche der seelischen Gesundheit« ausgerichtet. Die DGPPN ruft dazu auf, das Bundesgesundheitsministerium fördert. Das Ziel: Aufklärung betreiben, Stigmata abbauen, Diskriminierung beenden. Das ist dringend, mehr denn je. Erst am Osterwochenende wurde Lamin Touray im niedersächsischen Nien­burg durch acht Polizeikugeln getroffen, tödlich. Touray hat sich zuvor offensichtlich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden: Anstatt dem 46jährigen zu helfen, wurde er »wie ein Tier im Wald erschossen«, wird seine Freundin zitiert.

Das ist längst kein »Einzelfall«. Die Polizei agiert gegenüber psychisch Erkrankten in der Regel unwissend und ahnungslos. Wie am 2. Mai 2022 in Mannheim, als ein 47jähriger Psychiatriepatient durch den Einsatz von Polizeigewalt ums Leben gekommen war. Und: Rund 75 Prozent aller Opfer von Polizeigewalt in der BRD seien psychisch Erkrankte, weiß Thomas Feltes, ehemaliger Kriminologe der Ruhr-Universität in Bochum. Die »Initiative 2. Mai«, die Feltes zitiert, betont ferner, dass diese Menschen von Behörden »kriminalisiert, misshandelt und getötet« werden. Dass Gewalt gegenüber psychisch Erkrankten Normalität sei, kritisiert zudem der Bundesverband Psychiatrieerfahrener (BPE) in einer Stellungnahme: »Gewaltvolle Übergriffe gegenüber Menschen in psychischen Krisen sind leider keine Ausnahme!« Dabei beziehen sie sich nicht nur auf solche Fälle wie in Mannheim oder Nienburg, sondern auf Handlungen gegenüber psychisch Erkrankten im allgemeinen.

Ein Mittel der bürgerlichen Gesellschaft, mit diesen Betroffenen umzugehen, ist die Einweisung in psychiatrische Kliniken. Laut BPE werden in der BRD jährlich eine Million Menschen in Psychiatrien eingewiesen. Oftmals gegen den erklärten Willen der Betroffenen. Die Folge: »Zwangseinweisung«, in rund 20 Prozent der Fälle, teils unter Einsatz physischer Gewalt. Der BPE hat Patientenerfahrungen dokumentiert, wonach »Grenzüberschreitungen sowie rabiate Gewaltanwendung seitens Polizisten« immer wieder vorkämen.

Es zeigt sich: Diskriminierung psychiatrisierter Menschen und psychisch Erkrankter ist Alltag, vielerorts. Das bedeutet: Es braucht weiterhin Bildungs- und Aufklärungsarbeit, aber auch Reformen in staatlichen Behörden, zuvorderst im Polizeiapparat. Wie diese konkret aussehen könnten, formulierte Felix von Kirchbach, Vorstandsmitglied des BPE und Sprecher für die Landesorganisationen Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern: Polizisten sollen verpflichtet werden, an Aus- und Weiterbildungsprogrammen zu »Deeskalationsmethoden im Kontakt mit Menschen in psychischen Grenzzuständen« teilzunehmen. Außerdem sollen an der Entwicklung und Konzeptualisierung dieser Programme »Menschen mit erlebter Erfahrung von psychischen Krisen« beteiligt werden. Also die Devise: miteinander arbeiten, statt übereinander reden. Dass das in der BRD mehr als notwendig ist, erwähnte auch Nils Melzer, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für Folter: Die BRD habe ein ernsthaftes Problem mit Polizeigewalt. Dass darunter besonders Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen leiden, wird leider immer noch zuwenig betont.

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