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Aus: literatur, Beilage der jW vom 25.03.2004

Zeitalter der Zombies

Brillant und nachvollziehbar erklärt Wolfgang Pohrt den Nationalstaat für abgeschafft
Von Christof Meueler

* Wolfgang Pohrt: FAQ. Edition Tiamat, Berlin 2004, 176 Seiten,
14 Euro

»Kill the nation with a groove.« So lautete einmal der Kampfauftrag für die vaterlandslosen Gesellen dieses Landes.1992 ausgegeben als Titel eines frühen Deutsch-HipHop-Samplers. Daran gehalten hat sich niemand, außer Wolfgang Pohrt. Während die antinationale Linke zu den sogenannten Antideutschen mutierte, um die Marktlücke zwischen Esoterik und Faschismus zu besetzen (Justus Wertmüller findet mittlerweile Jean Marie Le Pen gar nicht mehr so schlecht), fing die leider nicht getötete Nation mit dem Töten erst richtig an. Krieg nach außen und nach innen ist das Hauptanliegen der Leute, die nach Helmut Kohl die Regierungsgeschäfte führen. Andererseits kann Wolfgang Pohrt »derzeit nichts erkennen, was mit Macht aus den Tiefen der deutschen Seele dringt. Ich sehe nicht mal eine Tiefe, eher eine Leere«.

Notiert er in seinem neuen Buch »FAQ«, das seine Reden und Artikel aus den letzten Jahren versammelt. »FAQ« heißt »Frequently Asked Questions«, könnte aber Pohrts Meinung nach genausogut »NAQ – Never Asked Questions« heißen, denn erstens wurde seine Konkret-Kolumne »Pohrt antwortet« eingestellt, und zweitens hat er sich die entsprechenden Fragen immer selbst gestellt. Gegen den »herrschenden Meinungsblödsinn« setzt er das Selbstinterview als leicht obskure Texttechnik. Man gönnt sich ja sonst nichts, zum Beispiel die These, daß der Nationalstaat endgültig dahin ist. Alles Inszenierung, »weil Politik im früheren Sinn nicht mehr existiert. Wir haben keinen Herrscher, es herrschen immer die Sachzwänge. Keine Regierung sagt ›Ich will‹. Jede Regierung sagt: ›Ich muß‹. EU, Euro, NATO, Globalisierung, IWF, WTO – das muß angeblich alles sein.« Die Politiker sind Menschenfeinde, die als selbstimaginierte Managertypen streng funktionalistisch den Staat wie ein börsennotiertes Unternehmen führen möchten, um »Arme, Alte und Arbeitslose« zu beklauen – und sich noch nicht einmal etwas dabei denken. »Wir leben im Zeitalter der Zombies, was die Welt ebenso langweilig wie unberechenbar macht. Von Schröder/Fischer etc. weiß man mit Sicherheit nur, daß sie jedes Spiel mitspielen werden. Ob es Pazifismus oder Militarismus, Antiimperialismus oder Atlantismus, soziale Marktwirtschaft oder Manchesterkapitalismus heißen wird, hängt allein von den Umständen ab.«

Insofern hat Pohrt tatsächlich die Nation gekillt, beziehungsweise für obsolet erklärt, und zwar mit einem Groove, der im Genre des BRD-Politessay nur ihm eigen ist. Denn Pohrt schreibt vorbildlich brillant. Er ist lustig, er ist überraschend, er ist klug. Wo andere Linke mit Sozialstatistiken, Klassikerzitaten und Talkshowaufgeschnapptheiten dahereiern, genügt ihm als krass-intellektuellem Stand-Up-Comedian etwas Marx, Horkheimer/Adorno und Google, um auf nachvollziehbarste Art und Weise eine Psychopathologie des kapitalistischen Alltags zu entwerfen. Bezogen auf die westlichen Industriestaaten könnte man die herrschenden Verhältnisse nach Pohrt so auf den Punkt bringen: voll öde, deppert und natürlich extrem brutal.

Im letzten Text des Buches beschäftigt er sich mit dem modernen Wohnen. Zur Feier des Bestehens eines gehobenen Wiener alternativen Wohnprojekts namens »Sargfabrik« wies er 1999 in einem Vortrag darauf hin, daß die Menschen ihre mühsam eingerichteten, erbauten oder gekauften Wohnflächen insgeheim als ihr vorweggenommenes persönliches Ende, als finale Gruft betrachten: »Im Regelfall aber kauft man aus Vorsorge heute kein Grab. Man kauft oder mietet vielmehr ein Haus oder Wohnung, 20jährige haben oft schon einen Bausparvertrag. Mit 20 ist man zum Sterben zu jung. Aber Zukunftsplanung heißt auch in diesem Fall, sich aus der Perspektive von Hinterbliebenen zu betrachten, nur daß man eben selbst zu den Hinterbliebenen gehören wird. Das führt zu einem Menschentyp, der sich fortwährend selbst überlebt. Die Wohnungen werden dann Aufbewahrungsorte für Menschen, die physisch noch viele Jahre vor sich haben, die als Personen aber schon viele Male und lange vor der Zeit gestorben sind.« Selbst Zombies merken, daß irgend etwas nicht stimmt. Deshalb freuen sie sich über einen ordentlichen öffentlichen Abriß, derart »als würde ein alter Feind besiegt, bei dem man viele offene Rechnungen hatte«.

Und bricht dann das World Trade Center zusammen, werden die Katastrophenfilme einer Gesellschaft wahr, »welche nachts den Einsturz und Abriß dessen herbeiphantasiert, was sie tagsüber mit erzwungener Begeisterung auftürmt«. Die Täter handelten »im Auftrag einer Zivilisation, die keine Perspektive sieht als verzweifelt immer mehr von dem herzustellen, was alle unglücklich macht«. Der öffentlich ausgerufene Urheber Bin Laden ist dann »der Person gewordene Teufel, die Projektion geächteter eigener Regungen auf ein fremdes Subjekt, das man erschlagen kann, ohne sich selber weh zu tun«.

Wenn die USA den Irak überfallen, weil sie dort offiziell Massenvernichtungswaffen vermuten, tun sie das, weil sie selbst in unendlicher Zahl über eben diese Waffen verfügen. Wenn sie sich um ihre Soldaten sorgen, die in irakische Gefangenschaft geraten sind, dann nur, um ihr eigenes Gebaren in Guantanamo zu antizipieren.

Im weltpolitischen Wirken dieser USA in antideutscher Manier das Wahre, Schöne, Gute sehen zu wollen, analog zur früher in der Sowjetunion vermuteten roten Heilsarmee, ist für Pohrt eine lächerliche Angelegenheit. Ebenso kann er die in diesem Milieu üblichen Warnungen vor wachsendem Antisemitismus nicht ernst nehmen. »Tatsache aber ist, daß die Juden in Deutschland nicht nur keine diskriminierte, sondern überhaupt keine Bevölkerungsgruppe sind, wenn man darunter ein für Außenstehende erkennbares Ensemble von Personen versteht.« Seiner Ansicht nach werden die Deutschen von anderen Themen bewegt: »die Rente, der Zahnersatz und das Dosenpfand«. Die Probleme liegen anderswo: »Die Armen sind wirklich nur noch arm, und seither hat das Thema für die Linke jeden Reiz verloren.«

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