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Aus: Ausgabe vom 07.05.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Archäologie

Porträt aus der Frühzeit

Britische Forscher rekonstruieren das Gesicht einer Neandertalerfrau. Die Ergebnisse tragen zur weiteren Differenzierung bei
Von Felix Bartels
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Neandertalers Sicht auf uns (Shanidar-Höhle)

»Ja, der Neaaandertaaaler waaandert aaallerdings noch ohne Ruh«, hatte Georg Kreisler in seinem Reimstakkato »Zwei alte Tanten tanzen Tango« gesungen. Und tatsächlich ist dies Geschwist unsrer Vorfahren weit gelaufen. Von Düsseldorf bis in den Nordirak, etwa die Route des Rojava­aktivismus also. Ein paar zehntausend Jahre später darf man feststellen, dass der Versuch Europas, eine eigene Menschengattung zu etablieren, als gescheitert gelten kann.

Der aus Afrika stammende Homo sapiens zog nach Norden und verdrängte vor etwa 40.000 Jahren den in Europa heimischen Homo neanderthalensis, mit dem er den Vorfahren Homo erectus, den aufrecht gehenden Menschen, gemein hat. Etwa 300.000 Jahre lang lebten Neandertaler in Europa, im Nahen Osten und in den Bergen Zentralasiens, etwa 30.000 Jahre lang teilten sie mit dem Homo sapiens denselben Lebensraum. Die Großregion zwischen Nordirak und Levante scheint den archäologischen Funden nach die weiteste Ausdehnung neandertalischer Besiedlung gen Süden gewesen zu sein.

In dieser Region liegen einige Fundstätten, die für die Forschung von Inter­esse sind. Eine von ihnen ist die Shanidar-Höhle im Norden Mesopotamiens, des Landes zwischen den Flüssen, heute bekannt als »Irak«. Dort wurde 2018 das Neandertalerfossil »Shanidar Z« gefunden – ein aus mehr als 200 Fragmenten bestehender Schädel einer Person, die vor etwa 75.000 Jahren dort gelebt haben muss. Eine Forschungsgruppe unter der Leitung des britischen Archäologen und Prähistorikers Graeme Barker von der University of Cambridge hat die Fragmente sowie das umgebende Gestein in mehreren Blöcken geborgen und nun vermittels einer Mikrocomputertomographie einem Scan unterzogen. Die Forscher untersuchten die DNA der Überreste, um herauszufinden, welchen Geschlechts die gefundene Person war. Das Ergebnis: Bei Shanidar Z handelt es sich um eine Frau, die im Alter von etwa 40 Jahren gestorben ist. Das Sterbealter wurde aufgrund der Kauflächen ihrer Zähne ermittelt. Die Rekonstruktion des Schädels, Voraussetzung für das nun veröffentlichte 3D-Modell, dauerte neun Monate.

Seit Donnerstag ist auf Netflix die von der BBC produzierte Dokumentation »Secrets of the Neanderthals« zu sehen, in der Sir Patrick Stewart die neuesten Entwicklungen um die Rekonstruktion vorstellt. »Die Schädel von Neandertalern und modernen Menschen sind sehr verschieden: Neandertaler hatten große Augenbrauenwülste und ein fliehendes Kinn, zudem eine ausgeprägte Nase«, erklärt Emma Pomeroy, Paläoanthropologin und außerordentliche Professorin am Institut für Archäologie der Universität Cambridge, die das Skelett mit ausgegraben hat und in dem neuen Film zu Wort kommt. »Aber das rekonstruierte Gesicht deutet darauf hin, dass diese Unterschiede zu Lebzeiten nicht so stark hervorgetreten sind.« Shanidar Z besaß durchaus eine große Nase und deutlich Augenbrauenwülste, allerdings scheint sie weit weniger fremdartig als viele frühere Rekonstruktionen von Neandertalern. »So kann man sich leichter vorstellen, wie es zu Kreuzungen zwischen unseren Spezies gekommen sein könnte – immerhin trägt fast jeder heute lebende Mensch Neandertaler-DNA in sich«, sagt Pomeroy.

Als sie das Skelett ausgrub, war das Geschlecht nicht ersichtlich. Nur die obere Hälfte des Körpers war erhalten, die aufschlussreichen Beckenknochen fehlten. Das Team bemühte eine neue Technik, bei der Proteine im Zahnschmelz sequenziert werden, wodurch sich das Geschlecht von Shanidar Z bestimmen ließ. Dass die Frau eine Körpergröße von 1,50 Meter gehabt haben dürfte, ergibt sich aus der Länge und dem Durchmesser ihrer Armknochen.

Der Fund gibt auch Hinweise auf Bestattungsrituale der Neandertaler. Shanidar Z lag in einer für ihren Körper ausgehöhlten Rinne begraben. Ihre linke Hand war unter ihrem Kopf zusammengerollt, ein Felsen hinter dem Kopf könnte symbolisch als Kissen gedient haben. »Der Körper von Shanidar Z war nur eine Armeslänge von der Stelle entfernt, an der die Lebenden kochten und aßen«, erläutert Pomeroy. »Für diese Neandertaler scheint es keine klare Trennung zwischen Leben und Tod gegeben zu haben.« Es gibt Hinweise auf kannibalische Gewohnheiten, allerdings sind die Spuren an den Knochen auf eine Weise geordnet, dass man von rituellen Zusammenhängen ausgehen kann. Der Kannibalismus dieser Neandertalergruppen wäre demnach weniger Zeichen animalischer Beziehungen, sondern vielleicht der Vorstellung, mit dem Verzehr des toten Körpers den Gestorbenen in der Gemeinschaft zu halten.

Archäologen haben die Shanidar-Höhle seit Jahrzehnten im Blick. Ein dort um 1960 entdecktes Grab brachte den US-amerikanischen Archäologen Ralph Solecki zu der Annahme, Neandertaler könnten ihre Toten mit Blumen bestattet haben. Damals dominierte in der Fachwelt noch die Meinung, dass der Homo neanderthalensis primitiv, ohne Sprache und von großer Brutalität geprägt lebte, dass er dem Homo sapiens kognitiv, kulturell und sozial unterlegen war. Was sich auch in der Namens­findung spiegelt. Der Neandertaler heißt nach dem ersten Fundort. 1856 waren im bei Düsseldorf gelegenen Neandertal Knochen gefunden worden. »Homo sapiens« bedeutet dagegen so viel wie »kluger Mensch«.

Die These der Blumenbestattung ließ Zweifel am Bild des kognitiv eingeschränkten Neandertalers aufkommen. Mittlerweile allerdings wird sie selbst bezweifelt. Man vermutet, die in den Gräbern entdeckten Pollen könnten durch Bienen in die Höhle gekommen sein. Am differenzierteren Bild hat das wenig geändert. Wissenschaftler konnten im Laufe der Jahrzehnte andere Hinweise dafür sammeln, dass die Kultur der Neandertaler komplexer und raffinierter war, so dass eine deutlich höhere Intelligenz ihrer Mitglieder anzunehmen ist. Der Homo neanderthalensis produzierte Werkzeuge, Schnüre und künstlerische Artefakte. Die Ausgrabungen lassen ferner den Schluss zu, dass die Gemeinschaften sich um körperlich beeinträchtigte Mitglieder gekümmert haben.

Neandertalergruppen scheinen wiederholt in die Höhle zurückgekehrt zu sein, um ihre Toten dort zur Ruhe zu betten. Bislang wurden dort die Überreste von zehn Individuen ausgegraben, die nicht alle bei derselben Gelegenheit bestattet worden sind. Der Fund von Shanidar Z 2018 war eine Sensation, der vorherige lag damals mehr als 50 Jahre zurück. Mittlerweile gibt es weitere. 2022 entdeckte man ein linkes Schulterblatt, einige Rippenknochen und eine rechte Hand. »Archäologie ist von Hause aus destruktiv«, man zerstöre, um zu schaffen«, kommentiert Pomeroy grabendes Handwerk, in dem die Jahre der Zeitreise in Tiefenmetern gemessen werden.

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