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Aus: Ausgabe vom 07.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Klassik

Der Klang der Humanität

Revolutionsmusik: Vor 200 Jahren wurde Beethovens 9. Sinfonie uraufgeführt
Von Stefan Siegert
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Gustav Klimt: Beethovenfries (1901)

Gehören in der Abteilung Schrifttum die Bibel und Marxens Kapital zu den Alltime-Spitzen auf den Weltkulturerbelisten, liegen auch im Bereich Musik die Linken nicht schlecht im Rennen. Ob die »Internationale« bereits auf der UN-Liste angelangt ist, war kurzfristig nicht zu ermitteln. Mit oder ohne UNO gehört das Lied zu den zweifellos populärsten und meistgesungenen Musikstücken der Menschheit. Es teilt diesen Status mit dem aktuellen Geburtstagskind des musikalischen Weltkulturerbes, mit der am 7. Mai 1824 in Wien uraufgeführten 9. Sinfonie Ludwig van Beethovens.

200 Jahre hat sich das Bürgertum nun abgemüht, dieses ultimative Kunstwerk wegzufeiern und totzuehren. Machte es die 9. im sich friedlich einrichtenden Europa des Jahres 1972 vielleicht noch mit einer gewissen Berechtigung zur Hymne des Europarats, war Beethovens sinfonischer Schlusspunkt ab 1985 die offizielle Hymne eines Kontinents, der sich, auf einen Sieg über den Systemkonkurrenten zusteuernd, unseliger Traditionen erinnerte.

Schillers »Ode an die Freude« war, als der 23jährige (!) Beethoven sich erstmals mit dem Text befasste, ein tyrannenfeindliches Trinklied, sein Verfasser wurde im Zuge feudaler »Cancel Culture« auf Jahre kriminalisiert und verfolgt; der ältere Schiller gestaltete die Ode kurz vor seinem Tod verträglicher. Und Beethoven macht daraus nach drei Jahrzehnten Auseinandersetzung mit dem Text ein chorsinfonisch ragendes Manifest solidarisch kämpferischer, ungeteilter Humanität.

Schon die Deutschfaschisten hatten sich, ohne rot zu werden, kriegstüchtigkeitshalber der 9. bedient (Herr von Karajan mit Hitlergruß). 1990 wurde Beethovens Weltbotschaft universellen Friedens abermals in den Dienst »westlicher Werte« genommen: Die elysische Freude darüber, dass »alle Menschen Brüder« werden, geriet beim Großereignis mit dem uralten Leonard Bernstein in der Berliner Philharmonie am Ende der »friedlichen Revolution« zum Triumphgeheul einer beutegierigen Siegermeute.

Die 9. Sinfonie wird auch derlei überstehen. Es gereicht den strikt freiheitlichen Beethoven-Freundinnen nicht zum Vorteil, dass sie auf die Frage nach den Werten der 9. Sinfonie immer undeutlicher nuscheln, immer hilfloser weglassen müssen, was der Tonsetzer ein für alle Mal in die Noten schrieb. Die Musik des revolutionären französischen Volksheers hatte er bereits 1805 in der 5. Sinfonie auf dem Schirm. Sie ertönt auch zwanzig Jahre später noch im Finale der 9. Sinfonie. Revolutionsmusik von vor dem Thermidor. Das Verhältnis des alten Beethoven zum standortorientierten Napoleon wurde am Ende immer zwiespältiger.

Theodor Adorno kann man einiges nachsagen. Zu Beethoven hat er sich klug eingelassen. Die 9., schrieb er, das Werk an seinen historischen Ort stellend, war »die musikalische Rettung der Welt im Stande des Subjektivismus«.

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