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Aus: Ausgabe vom 06.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Maghreb

»Ich fühlte mich im Stich gelassen«

Spanien: Marokko zieht erneut gegen unbequemen Journalisten vor Gericht. Der fühlt sich von Sozialdemokratie verraten. Gespräch mit Ignacio Cembrero
Interview: Carmela Negrete
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Marokkanische Journalisten protestieren gegen Unterdrückung der Meinungsfreiheit (Casablanca, 16.3.2011)

Herr Cembrero, der Prozess, den Marokko gegen Sie im Fall der Spionagesoftware »Pegasus« angestrengt hat, ist immer noch nicht abgeschlossen?

Ein Urteil wurde am 10. März vergangenen Jahres in der ersten Instanz gefällt, aber die Anwälte des Königreichs Marokko haben Berufung eingelegt. Jetzt liegt der Fall beim Provinzgericht von Madrid, das die zweite Instanz ist. Die Verzögerung ist darauf zurückzuführen, dass die Anwälte Marokkos ein neues Beweisstück vorgelegt haben, was auch dazu beitragen wird, die Entscheidung zu verzögern, da die Richter es ja prüfen müssen.

Es geht dabei um den jüngsten Geheimdienstbericht?

Ja, es handelt sich um einen Bericht des Nationalen Sicherheitsrats Spaniens, der den Premierminister in Sicherheitsfragen berät. Er veröffentlicht einen jährlichen Bericht, der online verfügbar ist. Er umfasst 285 Seiten, darin werden Sicherheitsrisiken und -aufgaben für Spanien aufgeführt. Der letzte wurde am 19. März veröffentlicht und bezieht sich auf das Jahr 2023. Darin ist zwar von den Problemen die Rede, die sich aus Einmischungen und Spionage durch Russland und China ergeben könnten, aber weder Marokko noch die Vereinigten Staaten werden erwähnt. Die Anwälte des Königreichs Marokko haben das genutzt, um zu argumentieren, dass Marokko unschuldig ist, da es in dem Bericht ja nicht erwähnt wird. Daraus schließen sie, dass ich lüge.

War es nicht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die entdeckte, dass Marokko die Überwachungssoftware »Pegasus« benutzt hat, um in Spanien zu spionieren?

Ja, Amnesty International hatte das mit Hilfe von Untersuchungen einer speziellen Forschungseinrichtung aufgedeckt, und die entsprechenden Informationen wurden von verschiedenen Medien in ganz Europa und darüber hinaus veröffentlicht.

Sie haben diese Informationen aufgegriffen, woraufhin Marokko Sie verklagt hat. Finden Sie es nicht merkwürdig, dass die Klage zugelassen wurde?

Ich habe auf die allgemein zugänglichen Informationen zurückgegriffen und auch eigene Dinge hinzugefügt. Die Analysen hatten ergeben, dass die Geheimdienste Marokkos mich mit Hilfe der »Pegasus«-Software überwacht hatten. Das Königreich Marokko hat nach Veröffentlichung der Berichte über seine Spionagetätigkeit versucht, einige Medien, Verantwortliche und Journalisten vor Gericht zu bringen, insbesondere in Frankreich und Deutschland. Um in Spanien gegen mich juristisch vorgehen zu können, wurde eine Besonderheit im spanischen Zivilgesetzbuch genutzt, die aus dem mittelalterlichen Recht stammt und »Anmaßungsklage« genannt wird. Das heißt, mir wird unterstellt, mich damit gebrüstet, geprahlt zu haben, dass ich mit »Pegasus« ausspioniert wurde. Es ist das vierte Mal seit 2014, dass Marokko mich vor Gericht bringt. Im französischen Zivilrecht existiert keine solche Regelung. Ich glaube auch in keinem anderen europäischen Zivilgesetzbuch. Es ist etwas, das im Mittelalter existierte, aber verschwunden ist – außer in Spanien. In Frankreich haben die Anwälte des Königreichs auf Verleumdung geklagt, aber dort gab es nicht einmal einen Prozess, weil das französische Recht besagt, dass Staaten oder ihre Institutionen nicht verleumdet werden können, sondern nur Einzelpersonen. Und so steht es eigentlich auch in der spanischen Gesetzgebung.

Die anderen Prozesse hat Marokko verloren, oder?

In Spanien habe ich keinen Prozess verloren. Alle anderen wurden eingestellt, oder ich habe sie gewonnen, wenn die Klagen auf zivilrechtlichem Weg eingereicht wurden.

Der marokkanische Journalist Ali Anouzla wurde ebenfalls vor Gericht gezerrt, aber er wurde in Marokko verurteilt?

Ja, er saß im Gefängnis und hat bis heute ein Berufungsverfahren auszustehen. Das ist typisch für die marokkanischen Behörden, einen solchen Fall nicht abzuschließen, damit immer ein Damoklesschwert über einem schwebt. Ein Journalist weiß so, dass er im Gefängnis landen kann, wenn er etwas schreibt, was Ärger verursacht. Anouzla war bereits drei Wochen im Gefängnis. Und nun wird der Prozess immer wieder verschoben. Aber ihm ist bewusst, dass er vorsichtig sein muss, denn wenn er die Behörden provoziert, könnte er wieder ins Gefängnis kommen.

Als Sie damals beschuldigt wurden und vor Gericht standen, wurde berichtet, dass Sie sich von der Zeitung, für die Sie arbeiteten, im Stich gelassen fühlten. War das so?

Das war 2014, als ich noch bei El País war. Bis April jenen Jahres habe ich für dieses Blatt gearbeitet. Die marokkanische Regierung hatte mich wegen des in Spanien als Terrorismusverherrlichung bekannten Tatbestands angezeigt. Sie haben mich bei der Staatsanwaltschaft und vor dem Nationalen Gerichtshof angezeigt. Auch das dauerte einige Monate, aber die beiden Verfahren wurden ebenfalls eingestellt. Das heißt, in beiden Fällen gab es kein Verfahren. Was jedoch geschah, war, dass El País mich bat, sofort nicht mehr über Marokko und Nordafrika zu schreiben. Ich habe der Redaktion zu diesem Zeitpunkt vorgeschlagen, dass ich den Arbeitsbereich wechsle, aber erst nach Einstellung der Klage Marokkos. Sie sagten, nein, es müsse sofort sein. Ich müsse innerhalb von 72 Stunden wechseln. Sie schlugen mir verschiedene Aufgabenbereiche innerhalb der Zeitung vor, aber damit war ich nicht einverstanden und sagte, dass ich gehe. Ich habe der Zeitung meine Entscheidung, sie zu verlassen mitgeteilt, und fühlte mich nicht von ihr unterstützt, weil sie mir zu keinem Zeitpunkt in Aussicht stellte, zumindest einige Monate zu bleiben, bis die Anklage eingestellt würde. Ich hatte jedoch die Unterstützung des Anwalts der Zeitung El País, der mir vor Gericht beistand, bis die endgültige Einstellung erfolgte, und das zahlte die Zeitung. Das war die Unterstützung, die ich hatte.

Es ist offensichtlich, dass das Konzept der Pressefreiheit in Marokko sich sehr von dem unterscheidet, das wir in Spanien und der EU haben. Haben Sie sich auch vom spanischen Staat im Stich gelassen gefühlt?

Ich fühlte mich im Stich gelassen, ja, natürlich. Von der Regierung und insbesondere von den regierenden Sozialdemokraten des PSOE. Und ich könnte viele weitere Beispiele anführen. Ich nenne einmal das wichtigste für mich, und zwar, dass am 19. Januar vergangenen Jahres im EU-Parlament über einen Entschließungsantrag abgestimmt wurde, in dem die marokkanischen Behörden aufgefordert wurden, drei marokkanische Journalisten, die ich kenne und die sich im Gefängnis befinden, freizulassen und auch dem juristischen Druck auf mich und den Belästigungen ein Ende zu setzen. Dieser Entschließungsantrag wurde zwar im Plenum angenommen, aber es gab zwei Gruppen von Abgeordneten, die dagegen gestimmt haben, eine davon waren die spanischen Sozialisten des PSOE, und die anderen waren die Abgeordneten des französischen Rassemblement National. Die spanischen Sozialisten haben im übrigen nie erklärt, warum sie dagegen gestimmt haben, genausowenig, wie sie erklärt haben, warum sie ihre Meinung zum Westsahara-Konflikt geändert haben. Ich nehme an, vor allem aus Angst, dass Marokko Spanien erneut erpressen könnte, indem es seine Grenzen für irreguläre Übertritte öffnet. Ich kann es nicht genau erklären. Es gibt andere Beispiele, die ich anführen könnte, aber das ist für mich das wichtigste. Es ist klar, dass es keine Unterstützung von den spanischen Behörden gegen die juristische Belästigung durch die marokkanischen Behörden gibt.

Zur Person: Ignacio Cembrero

Ignacio Cembrero ist einer der bekanntesten Journalisten, die von marokkanischer Seite wegen ihrer Berichterstattung über das nordafrikanische Königreich verfolgt werden. Einen ersten Höhepunkt erfuhr die Konfrontation zwischen ihm und den marokkanischen Behörden 2013 im Anschluss an die französische Militärintervention in Mali. Sie hatte zum Ziel, diverse Dschihadistenfraktionen aus dem westafrikanischen Land zu vertreiben. Auch die Kampftruppe »Al-Qaida im Islamischen Maghreb« war nominell geschlagen. Dennoch fand sie die Muße, ein professionelles Propagandavideo zu drehen, in dem speziell die Korruption in Marokko attackiert wurde.

Cembrero und sein marokkanischer Kollege Ali Anouzla schrieben damals über das Filmchen und betteten es mit einem Link in ihre Artikel ein. Damit handelten sich beide allerdings den Vorwurf aus Rabat ein, Terrorismus zu verherrlichen. Während Anouzla sich einem Schauprozess unterziehen musste und bis heute auf ein abschließendes Urteil wartet, wurden die Anschuldigungen gegen Cembrero abgewiesen. Dennoch sah er sich veranlasst, sich eine neue Arbeit zu suchen, und wechselte von El País zunächst zu El Mundo, dann 2015 zur Internetzeitung El Confidencial. Zuvor hatte sich Cembrero mit einem angeblich »unbegründeten« Artikel, der einmal mehr das Thema Korruption in Marokko ansprach, gleich die nächste Klage von dort eingehandelt.

Erneut ins Rampenlicht geriet Cembrero im Frühjahr 2022, als Amnesty International enthüllte, dass er möglicherweise vom marokkanischen Geheimdienst mit Hilfe der israelischen Spionagesoftware »Pegasus« überwacht worden war – genauso wie Premierminister Pedro Sánchez und andere Regierungsmitglieder. In dieser Affäre wurden die Ermittlungen erst im April wiederaufgenommen, nachdem man sie –anscheinend aus politischen Gründen – zunächst eingestellt hatte.

Marokko stritt jedenfalls ab, »Pegasus« im Ausland eingesetzt zu haben, und zog gegen Journalisten, die anderes behaupteten, juristisch zu Felde. In Frankreich und in Deutschland wurden entsprechende Eingaben abgewiesen. Aber in Spanien bot sich nach einer ersten Niederlage, die Marokko im vergangenen Jahr hinnehmen musste, eine neue Gelegenheit, gegen Cembrero vorzugehen, als der Nationale Sicherheitsrat im März seinen Jahresbericht 2023 veröffentlichte – in dem von Lauschangriffen aus Marokko keine Rede war. Also, so behauptete man in Rabat im Umkehrschluss, kann an den Vorwürfen Cembreros auch nichts dran sein. Daher geht das Verfahren gegen ihn in die nächste Runde. (jt)

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